Kampf, Krampf und Tüechli-TerrorDarum war der Feriensommer 2024 der reinste Horror
Von Andreas Fischer
23.8.2024
Tausende protestieren auf Mallorca gegen Massentourismus
Auf Mallorca demonstrieren laut Polizei 10'000 Menschen gegen Massentourismus – Dem Protestmarsch schlossen sich Gewerkschaften, Umweltschutzgruppen und verschiedene Bürgerinitiativen an.
26.05.2024
Kirchenglocken, Tüechli-Terror, Proteste und Streiks am Strand: Touristen wurde in diesem Jahr eine Menge abverlangt. Konnte sich überhaupt jemand erholen? Wir fassen den Feriensommer 2024 zusammen.
Andreas Fischer
23.08.2024, 04:30
23.08.2024, 08:07
Andreas Fischer
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Die Sommerferien sind zu Ende: Für viele Touristen waren sie eine echte Herausforderung.
In Erinnerung bleiben Kampf und Krampf am Strand, wütende Einheimische und leichtsinnige Instagram-Touristen.
Wir haben für dich die besten schlimmsten Feriengeschichten zusammengestellt.
Jetzt also auch noch die Kirchenglocken in Trentino: Sie läuten einfach immer weiter, ohne sich um die Touristen zu kümmern. Sie wollen ihre Ruhe haben, dafür haben sie schliesslich bezahlt. Lokale Bräuche hin, Bedürfnisse der Einheimischen her.
Doch dazu später mehr.
Ferien jedenfalls, das lässt sich im Rückblick auf den Sommer 2024 sagen, sind einfach nicht mehr das, was sie einmal waren. Von wegen Ruhe und Gelassenheit, Entspannung und Erholung. Ferien waren in diesem Jahr Kampf und Krampf, verhinderte Strandtage und wütende Proteste.
Wir fassen die Ferien 2024 zusammen – in einem »Worst of Summer ’24».
Kampfsportart: Tüechli-Streit
Es ist die Mutter aller Ferienfehden: der Tüechli-Streit. Hier die Spielanleitung: Man klemme sich in der Früh eine Ladung Badetücher unter den Arm und trage sie in angemessenem Tempo zum Pool des Hotels. Dort drapiere man die Tüechli auf freie Liegestühle, um diese als persönliches Eigentum für den Tag zu markieren. Dies auch, wenn man erst am Nachmittag baden will oder irgendetwas dazwischen kommt und man es vielleicht gar nicht schafft.
Früher vor allem von Deutschen und Briten auf Mallorca ausgetragen, ist der Tüechli-Streit mittlerweile zu einer universellen Kampfsportart geworden: nationen- und geschlechterübergreifend, an jedem Touristenort der Welt ausgetragen.
Im Sommer 2024 waren übrigens Nachtsessions der letzte Schrei: Schon kurz nach Mitternacht verteidigten die ersten Spieler ihren Erholungsplatz für den nächsten Tag.
Eskalation während 30 Minuten: Zwei Frauen prügeln sich in Italien um Liegestühle
Zwei Frauen rasten völlig aus, weil sie am italienischen Strand von Varcaturo keine Liegestühle an vorderster Front bekamen. Die Situation eskaliert während 30 Minuten komplett.
16.07.2024
Und wenn der passive Abwehrmodus nicht half, musste man eben in den Angriff wechseln. An einem italienischen Strand etwa artete der harmlose Zeitvertreib im Sommer zu einer handfesten Prügelei aus.
Mittlerweile gehört ein zünftiger Tüechli-Streit um kostenlose Liegestühle offenbar so sehr zur Feriensozialisation, dass Touristen bei Gratis-Angeboten am eigenen Verstand zweifeln.
Am Brienzersee musste eine Amerikanerin einen echten Kulturschock verkraften: Sie wollte ein gerade gekauftes Sandwich auf einer Liege verzehren – und musste nichts für den Platz bezahlen. Nichts!
Extreme Hitze vs. «Coolcation»
Es ist ja nicht so, dass es in den Ländern am Mittelmeer nicht schon immer etwas wärmer als zuhause in Schaffhausen oder in den Berner Alpen war. Deswegen fahren wir ja dorthin: Sonne tanken, im warmen Wasser baden, ungestraft Sandalen und weisse Leinenhemden tragen.
Allerdings hat der Klimawandel die Entspannungsverhältnisse verschoben. Am Mittelmeer ist es immer noch wärmer als hier. Viel wärmer. Unerträglich heiss. blue News Redaktorin Vanessa Büchel hat das am eigenen Leib erfahren: Statt entspannt durch Florenz zu schlendern, hat ihr die Hitze ziemlich übel mitgespielt. Sie war sogar neidisch auf eine Touristin, die Ventilatoren um den Hals trug. Was modisch gesehen nicht erstrebenswert ist.
Die Hitze über 40 Grad im mediterranen Süden treibt derweil immer mehr Feriengäste in den kühleren Norden. Fjord statt Strand, Gletscher statt Mittelmeer – Skandinavien richtet sich auf stärkeren Sommertourismus ein. «Coolcation» – eine Kombination aus «cool» wie kühl und «vacation» wie Auszeit – nennt sich der Trend zu Sommerferien in kühleren Gefilden.
Neben den angenehmen Temperaturen ein weiterer Vorteil: die Urlaubsdestinationen in Nordeuropa sind meist noch nicht überlaufen. Denn der Overtourismus ist vielerorts ein Problem und war Anlass für den grössten Ärger in diesem Sommer.
Proteste, Proteste, Proteste
Auf den Kanaren, in Griechenland, Spanien, Italien: Der unregulierte Massentourismus treibt die Einheimischen auf die Strasse. Auf Mallorca protestierten Zehntausende, auf der Insel tauchten «Kill Tourists»-Graffiti auf, Einheimische besetzten den Strand.
Auch andernorts gab es Demonstrationen: Warum die Grundstimmung gegenüber Massentourismus vielerorts kippt, erklärt Tourismusexperte Jürg Stettler im blue News Interview.
Nicht nur die Bevölkerung hat genug. Auch Politik und Verwaltung an besonders überlaufenen Destinationen haben erkannt, dass Overtourismus zu Problemen führt.
In Amsterdam gilt nunmehr eine Obergrenze für Übernachtungen, Venedig kostet Eintritt, eine beliebte Schlucht auf Teneriffa ebenso, Steuern werden erhöht, die Bürgermeisterin von Saint-Tropez appelliert verzweifelt an Touristen.
Einheimische im Lockdown
Manchmal haben die Stadtoberen aber auch eher ein Herz für Touristen als für die Einheimischen: Im griechischen Santorini macht ein Aufruf des Bürgermeisters Schlagzeilen.
In einer «Notfallmitteilung» warnt Panos Kavallaris die Bevölkerung vor der «Ankunft von 17'000 Besuchern von Kreuzfahrtschiffen!!!». Um eine Überlastung der Infrastruktur vor Ort zu verhindern, sollen Einheimische «die Bewegungen bitte so weit wie möglich reduzieren!!!». Eine Stadt im Lockdown, damit sich Touristen ausbreiten können …
Sichtschutzwände für einen Berg
Eine besondere Massnahme gegen Massentourismus haben sich die Behörden im japanischen Fujikawaguchiko einfallen lassen. Das kleine Städtchen wird von Foto-Touristen überrannt, die alle wegen eines einzigen Motivs kommen: dem Mount Fuji, der scheinbar auf dem Dach eines Supermarktes thront. Einen Klick und einen Instagram-Upload später sind sie wieder weg. Was bleibt: der Müll und genervte Anwohner, weil sich niemand an Verkehrsregeln hält und Strassen ständig blockiert sind.
Die Gemeindeverwaltung greift nun durch. Eine schwarze Wand soll her, die den Ausblick versperrt und so die Touristenmassen fernhalten soll. Eine bittere Lösung.
Strand geschlossen, und auch sonst geht nichts im Meer
Den ultimativen Albtraum erlebten Touristen in Italien. Dort blieben die Strände an einem schönen Sommertag Anfang August einfach geschlossen. Die Betreiber*innen der Strandbäder streikten: Ausnahmsweise waren nicht die Touristen der Grund, sondern die EU.
Aber auch wenn die Strände geöffnet waren: Nicht immer war es appetitlich, im Mittelmeer zu baden. Algen und Fäkalien machten den Sommer zu einer hygienischen Mutprobe. Auf der beliebten kroatischen Adriainsel Korčula hatte es zu viel Kot im Meer, Rimini und andere italienische Badeorte kämpften mit «Meeresrotz»: An der Wasseroberfläche treibender Algenschleim machte das Baden in der Adria zu allem anderen, aber nicht zu einem Vergnügen
Eine Spezies, die sich zuletzt besonders ausbreitete: Instagram-Touristen. Das sind meist jüngere Menschen, die vor allem für ein Social Media-Foto an besonders angesagte Orte kommen.
Einen Tag nach Protesten: Instagram-Bucht von Mallorca wird von Touristen überflutet
Am Sonntag sorgt ein Video einer überfüllten Badebucht in Mallorca für Aufsehen. Nur einen Tag zuvor hatten in der Hauptstadt Palma Tausende gegen Massentourismus protestiert.
27.05.2024
Instagram-Ziele gibt es auch in der Schweiz: In den Bergen tauchen die Bilderjäger schon mal in Sandalen und T-Shirt auf. Im Gegensatz zur minimalen Ausrüstung sind die Ansprüche freilich maximal. Vielen ist auch nicht bekannt, wie man sich in den Bergen verhalten sollte. Das kostet Energie und raubt Nerven, zum Beispiel der Hüttenwartin einer Glarner SAC-Hütte.
Auch der Oeschinensee in Kandersteg BE ist ein beliebtes Ausflugsziel, das in sozialen Medien Begeisterung auslöst. Die zunehmende Beliebtheit bringt auch hier Probleme mit sich. Viele Besucher sind unzureichend ausgerüstet und unterschätzen die Gefahren der Bergwege – was zu tragischen Todesfällen führen kann.
Zum Schluss, wie versprochen, die Geschichte von den Kirchenglocken im Trentino. Die läuten im Örtchen Rumo im Val di Non relativ häufig, nämlich 48 Mal pro Tag mit insgesamt 184 Glockenschlägen, wie «Focus» berichtet.
Für die Einheimischen ist das kein Problem, sie haben sich daran gewöhnt. Doch nicht alle Touristen scheinen damit klar zu kommen. Eine Gruppe Feriengäste forderte die Gemeinde und die Pfarrei auf, Massnahmen gegen das Gebimmel zu ergreifen. Sie blieben erfolglos.
Schlimmer noch: Zwischen Gemeindeverantwortlichen und Touristen entbrannte heftiger Streit mit persönlichen Drohungen, auch gegen die Bürgermeisterin. Das Ende vom Kirchenglockenlied: Die Angelegenheit eskalierte, die Touristen reisten ab, und irgendwann sieht man sich vor Gericht wieder.
Ruhe vor dem Ansturm
Bleibt die Hoffnung auf den nächsten Sommer: Falls du keine Lust auf Horrorferien hast, empfehlen sich Destinationen, die noch nicht in einem Instagram-Feed aufgetaucht und deswegen überrannt sind.
Ein gut gemeinter Rat: Fahrt nicht alle gleichzeitig nach Liechtenstein, Kiribati und Angola. Das würde nämlich nur zum oben beschriebenen Teufelskreis führen.
Einmal Venedig – künftig bis zu zehn Euro
Das Experiment einer Eintrittsgebühr für Tagesbesucher in Venedig endet nach 29 Tagen. Ab 2025 sollen statt fünf Euro bis zu zehn Euro verlangt werden. Trotz Einnahmen von über zwei Millionen Euro
bleibt das Problem des Massentourismus ungelöst.