In einer fünfteiligen Serie erzählt «Bluewin» die Geschichte von Grigori Rodschenkow, dem furchtlosen Whistleblower im russischen Dopingskandal. Teil 3: Grigori wechselt die Seiten – und riskiert sein Leben.
«Es ist eine Katastrophe. Sie setzen Leute einfach ab. Sie entlassen sie, ohne zu wissen, ob sie schuldig sind.» Grigori Rodschenkow ist aufgebracht, als er sich an diesem 12. November 2015 mit Kumpel Bryan Fogel per Skype austauscht. Tags zuvor wird der in Ungnade gefallene Leiter des Moskauer Anti-Doping-Labors vom russischen Sportminister Witali Mutko zum sofortigen Rücktritt gedrängt.
Grund dafür ist ein veröffentlichter Bericht der WADA-Kommission, die Russland und insbesondere Grigori schwere Dopingvergehen vorwirft. Seither steht die Welt des damals 56-Jährigen Kopf. Weil sein Telefon ständig klingelt, wechselt er seine Nummer. Sogar in den eigenen vier Wänden werden ihm Leibwächter empfohlen. Grigori überkommt die Angst, er macht sich Sorgen um sein Leben. «Bryan, die könnten mich jederzeit den Wölfen vor den Frass werfen. Ich weiss nicht, ob wir noch frei reden können, die haben uns sicher auf dem Radar. Kennst du Snowden? Dann verstehst du.» Rodschenkow weiss zu viel.
Ikarus (2017)
Ikarus ist ein im Jahr 2017 auf Netflix erschienener Dokumentarfilm. Er handelt in der ersten Hälfte von dem Selbstversuch des Filmemachers Bryan Fogel mit Hilfe von Doping ein Radsportamateurrennen zu gewinnen. Dabei wird er von Grigori Rodschenkow unterstützt. Die zweite Hälfte handelt von Rodschenkows Rolle im russischen Staatsdoping. Wir stützen uns in dieser Serie auf den preisgekrönten Dokumentarfilm.
Denn während hinter den Kulissen zumindest im Moskauer Labor scheinbar willkürlich aussortiert wird, bestreitet Sportminister Witali Mutko die Vorwürfe in der Öffentlichkeit vehement. Man habe ein hochmodernes Labor eingerichtet, das für seine Tests bekannt sei. Dennoch distanziert sich Mutko und will nichts von möglichen Vergehen im Labor mitbekommen haben: «Die Regierung finanziert lediglich den Betrieb des Labors.» Rodschenkow wird als Einzeltäter dargestellt – ein guter Schachzug.
Todesangst: Grigori will abspringen
Am 13. November beschliesst der Dachverband der Leichtathletik (IAAF), den russischen Verband zu suspendieren – auch für die Olympischen Spiele in Rio. In einer Rede kündigt Vladimir Putin daraufhin interne Untersuchungen an, man wolle die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Für Grigori ist spätestens jetzt klar, dass er sich aus dem Staub machen muss. Glücklicherweise kann er auf seinen neuen amerikanischen Freund zählen.
Während Fogel via Skype einwilligt, für ihn einen Flug nach Los Angeles zu buchen, ist im Hintergrund Grigoris Frau zu hören: «Sie beobachten uns.» Wie Fogel später in einem Interview aufklärt, wird Familie Rodschenkow zu diesem Zeitpunkt von zwei FSB-Agenten (Russischer Geheimdienst) «bewacht» – oder eher überwacht? Grigori will von Freunden beim Geheimdienst zudem erfahren haben, dass man einen Mordanschlag auf ihn plane.
Hals über Kopf verlässt er unter Todesangst seine Heimat. Die eigene Familie muss Rodschenkow in Moskau zurücklassen, aber die Flucht gelingt. Samt Beweismittel kommt der Russe bei Fogel in den USA an, in Sicherheit ist er deshalb aber noch lange nicht. Das ist auch Rodschenkow bewusst: «Wenn man die Wahrheit sagt, wird man vernichtet.»
Dieses Risiko will er aber eingehen und in Zusammenarbeit mit Fogel mit allem rausrücken, was er weiss. Das ist eine Menge mehr, als zu diesem Zeitpunkt ans Licht gekommen ist. Grigori wird zum russischen Whistleblower – womöglich gerade rechtzeitig.
Der russische Whistleblower
Nur drei Monate nach Grigoris Flucht stirbt der ehemalige Chef der russischen Anti-Doping-Agentur RUSADA, der nach den WADA-Enthüllungen wie Grigori zurücktreten musste, völlig überraschend an einem Herzinfarkt. Rodschenkow reagiert fassungslos und glaubt nicht an eine natürliche Todesursache. «Mein Schulfreund ist gestorben, gesundheitliche oder Herzprobleme hatte er nie.»
Spätestens jetzt weiss Grigori, dass er auch in Los Angeles in Gefahr ist. Und mittlerweile nicht nur er, sondern auch Fogel: «Bryan, wir spielen das gefährlichste Spiel in der Sportgeschichte» – mitgegangen, mitgefangen.
Hinweis: Die fünfteilige Serie zu Grigori Rodschenkow, dem Whistleblower im russischen Dopingskandal, basiert auf dem 2017 erschienenen Dokumentarfilm «Ikarus». Sofern keine Quelle angegeben wird, stammen Zitate aus der auf Netflix verfügbaren Dokumentation.