Atom-AusstiegDeutschlands AKW sind aus – könnte die Schweiz das auch?
Von Stefan Michel
22.4.2024
Deutschland hat den Atom-Ausstieg vor einem Jahr vollzogen und kommt bislang gut zurecht. Könnte das auch die Schweiz? Eine Expertin und ein Experte erklären, womit wir zu kämpfen hätten.
Stefan Michel
22.04.2024, 00:00
22.04.2024, 08:22
Stefan Michel
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Deutschland verzichtet seit einem Jahr fast vollständig auf Atomstrom und generiert selber keinen mehr.
Würde die Schweiz von heute auf morgen ihre AKW herunterfahren, müsste sie 32 Prozent des Stroms ersetzen – wesentlich mehr als die 6 Prozent, die Deutschland mit der Abschaltung der letzten drei Kernkraftwerke ausgleichen musste.
Nils Epprecht von der Schweizer Energiestiftung ist überzeugt, dass die Schweiz auch kurzfristig ohne AKW genug Strom hätte – mit Importen.
Nadine Brauchli vom Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen sagt, die Schweiz müsste deutlich mehr importieren und je nach Situation Reserve-Kraftwerke in Betrieb nehmen, sollten die AKW kurzfristig ausser Betrieb genommen werden.
Seit einem Jahr kommt Deutschland ohne eigenen Atomstrom aus. Weil die letzten deutschen AKW noch bis Mitte April liefen und danach etwas Atomstrom importiert wurde, machte nuklear gewonnene Energie noch 1,3 Prozent am Strom-Mix aus.
Könnte die Schweiz das auch? Ein grosser Unterschied fällt ins Auge: In Deutschland haben die AKW zuletzt noch 6 Prozent zum gesamten Stromangebot beigetragen. Die Schweizer Stromproduktion enthält zurzeit rund 32 Prozent Atomstrom. Wie viel Atomstrom effektiv ersetzt werden müsste, liegt aber am Stromverbrauch. 2022 machte der Atomstrom hier 20 Prozent aus. Den Rest exportierten die Betreiber der AKW. Dennoch steht fest, dass die Schweiz eine grössere Lücke zu füllen hätte, würde sie sich entscheiden, die Kernkraftwerke sofort stillzulegen.
«Besonders im Winter sind wir noch auf die vier Kernkraftwerke angewiesen», präzisiert Nadine Brauchli, Geschäftsleitungsmitglied und Leiterin Energie beim Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen VSE. Für sie steht fest: «Die Schweiz kann es sich nicht leisten, alle vier Kernkraftwerke sofort herunterzufahren. Die Erfahrung zeigt, dass es mehr Zeit braucht, um den Strom mit Erneuerbaren zu ersetzen.»
Nils Epprecht, Geschäftsleiter der Schweizer Energiestiftung, ist nicht einverstanden: «Wir könnten den Atomstrom durch Importe ersetzen, aber wir bräuchten die Sicherheit, dass wir den Strom auch wirklich erhalten, wenn wir ihn brauchen.» Bundesamt Rösti setze aber eher auf inländische Stromproduktion als auf ein Stromabkommen mit der EU.
Brauchli würde sich nicht auf Importe verlassen. «Sollen alle Schweizer AKW kurzfristig ausser Betrieb genommen werden, müsste die Reserve erhöht werden. Dies geht nur mit zusätzlichen Reserve-Gaskraftwerken.»
Können Erneuerbare Atomstrom ersetzen?
Was am Stromverbrauch Deutschlands überrascht, ist, dass der Anteil erneuerbarer Energie seit dem Atom-Ausstieg sogar gestiegen ist. Das liegt einerseits daran, dass die eigenen Kohle- und Gas-Kraftwerke ihre Energie exportierten, während die Stromversorger zur Hälfte Strom aus erneuerbaren Quellen importierten.
Export und Import sind eine kurzfristige Grösse. Sie richten sich nach den Preisen am Energiemarkt. Und weil Wasser-, Solar- und Windstrom besonders im Sommer günstiger war als jener aus fossilen Quellen, kam dieses für die CO₂-Bilanz günstige Verhältnis zustande.
Deutschland hat die Abkehr von der Kernkraft aber auch dadurch ermöglicht, dass es die erneuerbare Stromgewinnung, namentlich aus Photovoltaik und Windkraft, in den zwei Jahrzehnten vor dem Ausstieg massiv ausgebaut hat.
So konnte unser nördlicher Nachbar den Anteil erneuerbarer Energien am Strom-Mix von 6,3 Prozent im Jahr 2000 auf 52 Prozent 2023 steigern. Im gleichen Zeitraum sank der Beitrag der Kernkraft von über 30 Prozent auf 6 Prozent unmittelbar vor der Abschaltung.
Zäher Solar-Ausbau in der Schweiz
Nadine Brauchli vom VSE bestätigt, «Die Europäische Union und besonders Deutschland sind früh in die Förderung der erneuerbaren Energien eingestiegen und haben bislang einen deutlich höheren Zubau erreicht als die Schweiz. Die Schweiz hat dafür schon immer dank Wasserkraft einen sehr hohen erneuerbaren Anteil.»
Zudem hat Deutschland den Ausstieg aus der Kernenergie laut Brauchli abgefedert: Mit Braunkohle, Steinkohle- und Gas-Kraftwerken konnte die Stromerzeugung erhöht werden, wenn dies nötig war.
Entscheidend war zudem: «In Europa wurden die Bewilligungsverfahren für die Erneuerbaren deutlich gestrafft aufgrund der Energiekrise, und zudem haben Länder wie Deutschland mehr Flächen zur Verfügung, insbesondere windreiche Küsten.»
Doch auch die Schweiz versorgt sich zu einem grossen Teil mit Strom aus erneuerbarer Quelle, einem deutlich höheren Anteil als Deutschland sogar. Die Wasserkraftwerke liefern seit Jahrzehnten rund 60 Prozent des im Inland produzierten Stroms. Die «neuen Erneuerbaren» steuern inzwischen gut 9 Prozent bei. Damit liegt die Schweiz gesamthaft immer noch deutlich vor Deutschland.
Die Solar- und Windenergie spielen in der Schweiz aber nach wie vor eine kleinere Rolle als in anderen europäischen Ländern. Der Zubau an PV-Anlagen auf Dächern hat in den letzten zwei Jahren stark zugenommen, jener von Windrädern läuft in der Schweiz im europäischen Vergleich immer noch langsam.
Nils Epprecht von der Energiestiftung betont: «In den letzten zwei Jahren haben wir das AKW Mühleberg in Form von PV-Anlagen auf Dächern ersetzt.» Er meint damit, dass die in den letzten zwei Jahren in Betrieb genommenen Solarstrom-Anlagen an Gebäuden so viel Strom produzieren, wie das AKW Mühleberg ins Netz eingespiesen hat, bevor es 2019 still gelegt wurde.
Auch die verbreitete Ansicht, dass der Solar-Express des Bundes entgleist sei, lässt er nicht gelten: «24 von 32 Projekten sind bewilligt. Aber in den Medien sind halt die umstrittenen Anlagen viel präsenter.»
Epprecht spricht damit auf Solar-Anlagen in den Bergen an, vor allem im Wallis und in Graubünden, die in den letzten Monaten in Gemeinde-Abstimmungen abgelehnt worden sind. Diese sind wichtig, damit der Schweiz im Winter auch noch genug Strom zur Verfügung steht, wenn die AKW vom Netz gegangen sind.
Sie müssten die Winterlücke aber nicht allein ausfüllen, erklärt Epprecht. «Die alpinen Solar-Anlagen müssen nicht die grosse Menge liefern, sondern Energie aus den Stauseen ergänzen. Im März oder April, wenn die Wasserspeicher leer sind, liefern auch die PV-Anlagen auf den Dächern in den Siedlungsgebieten wieder überdurchschnittlich viel.»
Nils Epprecht ist überzeugt, dass es die Schweiz schaffen kann, die Atomkraft durch erneuerbare Energien zu ersetzen. Nadine Brauchli vom VSE stimmt zu, dass die Voraussetzungen vorhanden sind. «Aber wenn die Akzeptanz für den Ausbau der Erneuerbaren tief bleibt, wird es trotzdem schwierig.»
Die Schweiz lässt sich Zeit mit dem Atom-Ausstieg
Die Grundlagen zu schaffen, um die Schweizer Energieversorgung auf eine atomfreie und erneuerbare Basis zu stellen, darum geht es auch beim Stromgesetz, über das die Schweiz am 9. Juni abstimmt. Klar ist: Zwischen den Anteilen der AKW (rund 30 Prozent) und der neuen Erneuerbaren (9 Prozent) klafft eine Lücke, die geschlossen werden müsste, sollte die Schweiz ihre AKW stilllegen wollen. «Zudem wird künftig der Stromverbrauch merklich steigen, weil wir vermehrt mit Strom heizen und Auto fahren werden», fügt Brauchli an.
Noch zeigt die Kurve des Stromverbrauchs aber in die andere Richtung. Der Bund hat diese Woche bekannt gegeben, dass der Stromverbrauch der Schweiz 2023 so tief war wie zuletzt 2004; trotz deutlich grösserer Bevölkerung (+1,5 Millionen) und mehr Elektroautos (+155'000). Möglich machen dies vor allem effizientere Geräte.
Die Schweiz hat den Atom-Ausstieg mit der Energiestrategie 2050 beschlossen. Oder genauer: Sie hat entschieden, dass keine neuen AKW gebaut werden dürfen. Diese dürfen aber so lange weiterlaufen, wie sie sicher sind.
Epprecht erinnert daran, dass Bundesrat Rösti an der Photovoltaik-Tagung gesagt habe, er gehe davon aus, dass Solarstrom in vier Jahren 20 Prozent zum Schweizer Strommix beitragen werde. Das entspräche immerhin schon dem Anteil des Atomstroms am Verbrauch der Schweiz 2022.
Das ist ein Anfang, allerdings muss der Atomanteil nicht nur über das ganze Jahr gesehen ersetzt werden, sondern auch an jedem Tag im Jahr – auch dann, wenn Solarkraftwerke nicht viel liefern.