AKW-Aus in Deutschland Ein Jahr ohne Atomstrom – die Bilanz erstaunt

Stefan Michel

17.4.2024

Seit einem Jahr ist der Meiler aus: Das AKW Isar 2 war eines der drei letzten, die in Deutschland im Zug des Atomausstiegs im April 2023 den Betrieb einstellten.
Seit einem Jahr ist der Meiler aus: Das AKW Isar 2 war eines der drei letzten, die in Deutschland im Zug des Atomausstiegs im April 2023 den Betrieb einstellten.
Keystone

Vor einem Jahr sind die letzten AKWs auf deutschem Boden ausser in Betrieb gegangen. Deutschland versorgt sich jetzt mehrheitlich mit erneuerbarem Strom – und hatte bislang jederzeit genug davon.

Stefan Michel

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Vor einem Jahr hat Deutschland den Atomausstieg vollzogen.
  • Die Bilanz: Deutschland generiert weiterhin genug Strom für den eigenen Bedarf.
  • Der Anteil der erneuerbaren Energien am Strom-Mix ist gestiegen, jener fossilen gesunken.
  • Deutschland hat im Jahr nach dem Atomausstieg mehr Strom importiert, jedoch nur, weil die Preise im internationalen Markt tiefer waren als jene der einheimischen Anbieter.
  • Die Strompreise sind auch für die Haushalte gesunken.

«Ich glaube, wir werden im Winter ernsthafte Probleme bekommen.» Bayerns Ministerpräsident Markus Söder malte den Teufel an die Wand und schlug gegenüber dem Bayerischen Rundfunk vorsorglich Alarm. Gleichzeitig beschwichtigte er, dass die AKWs dann auch wieder hochgefahren werden könnten.

Ein Jahr ist das nun her. Damals hat Deutschland seine letzten drei Atommeiler stillgelegt. Und auch im Frühling 2024 geht laut einer Umfrage, die der Stern zitiert, eine Mehrheit der Deutschen mit Söder einig, dass der Atomausstieg eine schlechte Entscheidung war. 51 Prozent sind gegen den Atomausstieg, nur 28 Prozent begrüssen ihn.

Die Befürchtungen sind die gleichen wie in der Schweiz: Ohne AKW stehe zu wenig Strom zur Verfügung, elektrische Energie werde teurer, es müsse mehr Strom importiert werden und schliesslich befeuere das Atom-Aus das Comeback des klimaschädigenden fossilen Stroms aus Kohle, Gas und Öl. In einem Punkt haben die Kritiker recht – aber anders, als sie vermuten.

Es gibt keine Stromlücke

Die Bilanz nach einem Jahr ohne laufende AKWs zeigt: Deutschland generiert weiterhin genug Strom für den eigenen Bedarf. Es hätte sich zu jedem Zeitpunkt selber versorgen können. Dass 2023 Strom importiert wurde, hatte eine andere Ursache: Der Strom aus anderen Ländern war billiger als der deutsche Kohlestrom und half so dem Land, weniger CO₂ für die Energieerzeugung auszustossen. 

Im Frühling habe Deutschland vor allem Wasserstrom aus den Alpen eingeführt, erklärt Bruno Burger, Professor am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE). Im Sommer sei Energie aus Wasserkraftwerken in den Alpen und Norwegen sowie Windstrom aus Dänemark ins deutsche Netz geflossen; aber auch Atomstrom aus Frankreich. Dort sind zahlreiche AKWs nach längerem Unterbruch wieder ans Netz gegangen.

Deutschland hat – im Unterschied zum letzten Atomjahr – mehr elektrische Energie importiert als exportiert. Doch auch das liegt an den tiefen Preisen, die auf dem internationalen Strommarkt dafür zu bezahlen waren. Falls nötig, hätten auch die eigenen Kraftwerke genug Strom geliefert, aber zu einem höheren Preis und mit mehr CO₂ als Begleiterscheinung.

Erneuerbare überflügeln fossile Energie

Ein Grund für ausbleibende Atomstrom-Entzugserscheinungen ist, dass die Kernkraft zuletzt nur noch sechs Prozent des in Deutschland verbrauchten Stroms lieferte. Zu Beginn des Jahrtausends lag dieser Anteil noch bei über 30 Prozent.

Seither haben die erneuerbaren Energien in Deutschland stark zugelegt. Im Jahr des Atomausstiegs hat der Zubau von Solar- und Windkraftanlagen die weggefallene Energiemenge mehr als kompensiert, wie Zahlen des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme zeigen. 30 Terawattstunden haben die letzten drei Atommeiler in ihrem letzten Betriebsjahr generiert. 32 Terawattstunden haben erneuerbare Energiequellen 2023 mehr geliefert als 2022. Die Zahlen des Statistischen Bundesamts bestätigen die Tatsache, wenngleich aufgrund anderer Zeiträume.

Fossile Energie ist in Deutschland immer noch ein wichtiger Faktor, namentlich jene aus Kohle. Doch selbst der Anteil von Kohle, Öl und Gas am Strom-Mix in Deutschland ist im vergangenen Jahr gesunken, und das noch einiges stärker als jener des Atomstroms, nämlich um fast 50 Terawattstunden oder rund ein Viertel der erzeugten Menge, allein zwischen April 2023 und April 2024. 

Damit versorgt sich Deutschland im Jahr nach dem Atomausstieg so sauber wie noch nie mit Strom, stellt Burger vom ISE fest. 58,3 Prozent haben die Erneuerbaren im ersten Jahr seit dem Atomausstieg zur gesamten Strommenge beigesteuert. Ein Jahr vorher waren es 48,7 Prozent. 

Strom ist billiger geworden

Deutschland ist also weder in einen Stromengpass geraten, noch hat es Atomstrom durch fossile Energie ersetzt. Die hohe Importmenge ist bedingt durch die tiefen Preise im internationalen Strommarkt und nicht, weil dem Land sonst der Saft ausgegangen wäre.

Die Strompreise in Deutschland sind also wegen der AKW-Abschaltung nicht gestiegen, im Gegenteil: Der Durchschnittspreis für eine Kilowattstunde ist um 23 Prozent gesunken.

Einen kleinen Einfluss auf die Bilanz hat auch die Tatsache, dass Deutschland knapp zwei Prozent weniger Strom verbraucht hat als im Jahr davor. Doch auch wenn der Verbrauch nicht gesunken wäre, hätte Deutschland diesen selber decken können.

Die international tieferen Strompreise haben Deutschland den Ausstieg ebenfalls erleichtert. Diese können als glücklicher Zufall interpretiert werden. Expert*innen verweisen schon lange darauf, dass Energie aus erneuerbaren Quellen günstiger sei als jene aus fossilen. So zahlt es sich finanziell aus, auf Wasser, Sonne und Wind zu setzen. Der Strommarkt hat in den letzten Jahren aber so spektakuläre Preissprünge fabriziert. Die aktuell wieder günstigeren Preise sind nicht in Stein gemeisselt.

Würde der Atomausstieg in der Schweiz ebenso problemlos über die Bühne gehen? Das wäre wohl nicht der Fall, denn der Anteil des Atomstroms im Strom-Mix ist einiges höher, als jener in Deutschland zuletzt war: 20 Prozent stammen aus den vier aktiven Meilern in Beznau, Gösgen und Leibstadt. Der Anteil ist zwar schon deutlich gesunken, aber kurzfristig wäre die Kernenergie in der Schweiz schwerer zu ersetzen als in Deutschland.