Ausstieg aus dem AtomausstiegEin neues Schweizer AKW wäre ein grosses ökonomisches Risiko
Stefan Michel
2.9.2024
Der Bundesrat will den Bau neuer AKW in der Schweiz unter Umständen wieder erlauben. Trotzdem stehen einem neuen Reaktor auf Schweizer Boden viele Hürden im Weg, nicht zuletzt wirtschaftliche.
Stefan Michel
02.09.2024, 09:30
Stefan Michel
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Der Bau neuer Kernkraftwerke soll in der Schweiz wieder möglich sein. Das hat der Bundesrat entschieden.
Ein neues AKW müsste aber eine Reihe von Bewilligungsverfahren bestehen und wohl auch mehrere Volksentscheide gewinnen, um Realität zu werden.
Strom aus einem neuen Schweizer Atomreaktor würde deshalb frühestens in 15 Jahren fliessen. Realistischer wären 20 Jahre.
2017 hat die Schweizer Stimmbevölkerung beschlossen, dass in der Schweiz keine AKW mehr gebaut werden dürfen. Sieben Jahre später hat der Bundesrat bekannt gegeben, dass er genau dies unter Umständen doch wieder erlauben wird.
Der kurzfristige Grund ist die «Blackout-Initiative», deren Initiant*innen den Atomausstieg rückgängig machen wollen. Seit der Ukraine-Invasion geht die Sorge um, in der Schweiz könnte sich eine Stromlücke auftun. AKW liefern konstant Strom, während der Output der erneuerbaren Energiequellen saisonal oder sogar im Tagesverlauf schwankt.
Wer nun erwartet, die Betreiber der aktiven Schweizer AKW würden jubeln und lieber heute als morgen mit der Planung eines neuen Kernkraftwerks beginnen, täuscht sich. Diese konzentrieren sich darauf, die erneuerbaren Energien massiv auszubauen. Das Schweizer Stimmvolk hat so entschieden.
Schweizer Stromversorger zurückhaltend
In der Schweiz ein neues AKW zu planen und zu bauen, wäre eine enorme Aufgabe. Die technische Umsetzung wäre dabei noch das kleinere Problem. Es wären Gesetzesänderungen nötig, die mit dem Referendum bekämpft werden könnten. Ein jahrelanger politischer Kampf wäre zu gewinnen, bevor es sich lohnen würde, Mittel in die Projektierung zu stecken.
Entsprechend zurückhaltend äussert sich der Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen VSE: «Je mehr Optionen wir für die Zukunft haben, desto grösser ist der Handlungsspielraum für die Versorgungssicherheit und das Erreichen der Klimaziele.» Konkrete Pläne gebe es nicht, ein neues Kernkraftwerk würde frühestens in 20 Jahren bereitstehen.
Der Blick ins Ausland zeigt, ein Ding der Unmöglichkeit ist der Bau neuer AKW nicht. 2023 sind in Belarus, China, Südkorea, der Slowakei und den USA neue Reaktoren ans Netz gegangen. In 15 Ländern und auf drei Kontinenten sind gemäss Auflistung der Internationalen Atomenergie-Organisation IAEA AKW im Bau.
Bauverzögerungen und Kostenüberschreitungen im Ausland
Die Erfahrungen, die einige Staaten bei der Realisierung neuer Kernkraftwerke gemacht haben, deuten an, welche Herausforderungen damit auch in der Schweiz verbunden sein könnten. So hätte das seit 2016 im Bau befindliche Werk Hinkley Point in Grossbritannien 21 Milliarden Euro kosten und 2025 ans Netz gehen sollen. Die neusten Prognosen gehen von Kosten von über 30 Milliarden Euro und der Inbetriebnahme Anfang der 2030er Jahre aus.
Nach 18 Jahren Bauzeit hat im April 2023 in Finnland der Reaktor Olkiluoto 3 die Stromerzeugung aufgenommen. Geplanter Betriebsstart wäre 2009 gewesen, die Kosten sollen mit 11 Milliarden Euro fast viermal so hoch ausgefallen sein, wir kurz nach der Jahrtausendwende kalkuliert.
Ein Grund für die Verzögerungen bei europäischen AKW-Projekten sei, dass das nukleare Regelwerk während der Bauphase vielfachen Änderungen unterworfen war und viele Unklarheiten enthalten habe, sagt Andreas Pautz, Leiter des Center for Nuclear Engineering and Science am Paul Scherrer Institut.
10 bis 12 Jahre nur für die Bewilligungen in der Schweiz
In der Schweiz schätzt er, dass es 10 bis 12 Jahre dauern würde, bis eine Betriebsbewilligung vorläge. «Erst dann kann man in die Bauphase einsteigen», betont er. Anders gesagt: Das wirtschaftliche Risiko wäre zu gross, Mittel in die Entwicklung des Werks zu stecken, bevor klar ist, dass man dieses auch betreiben darf.
«Jedes neue Kernkraftwerk in Europa ist heute eine Neuentwicklung. Es gibt keine Anlagen von der Stange», erklärt Christian Schaffner, Direktor des Energy Science Center der ETH Zürich. Darum seien die Kosten so schwer vorherzusehen.
Die Kosten für den Bau und den Betrieb über die Lebensdauer eines AKW geteilt durch die Energiemenge, die dieses in dieser Zeit produziert, ergibt den Preis einer Einheit Energie. Liegt dieser unter dem Marktpreis für Strom an einem bestimmten Tag, verdient der Betreiber des AKW Geld. Ist er aber teurer, schreibt er einen Verlust.
«Darum ist ein neues AKW in der Schweiz aus unserer Sicht kein Business Case», urteilt Schaffner. Einfach ausgedrückt: Es lässt sich damit wahrscheinlich kein Geld verdienen, weshalb es für Investoren nicht attraktiv ist.
Andreas Pautz hingegen hält die Kosten für kalkulierbar – vorausgesetzt, die Politik schafft die Voraussetzungen, dass sich ein AKW-Projekt innert nützlicher Frist realisieren lässt: «Dazu müsste sich die Schweiz entscheiden, generell die Bewilligungsverfahren zu verschlanken – auch bei den Erneuerbaren.»
Ein AKW von der Grösse Gösgens müsse eigentlich für rund 5 bis 6 Milliarden Franken realisierbar sein, wenn Bewilligungs- und Bauphase ohne wesentliche Verzögerungen abliefen, ist Pautz überzeugt. Diesen Betrag hält Schaffner für sehr optimistisch: «So günstig kann vielleicht China im eigenen Land ein AKW erstellen.» Er verweist auf die oft zitierten Berechnungen der US-Investmentbank Lazard, die «Levelized Cost of Endergy»: Gemäss deren Zahlen würde ein 1-Gigawatt-Kraftwerk wie Gösgen 7,4 bis 12,2 Milliarden Franken kosten.
Lässt sich mit Atomstrom Geld verdienen?
Wären alle nötigen Bewilligungen erteilt, wäre es laut Pautz möglich, in fünf bis sechs Jahren ein AKW fertigzustellen. «Als in Frankreich in den Siebziger- und Achtzigerjahren ein AKW nach dem anderen gebaut wurde, waren fünf Jahre Bauzeit die Regel.» Das für diese Effizienz nötige Wissen sei in den letzten 40 Jahren aber zum Teil verloren gegangen, erklärt er. «Aber das war technisch schon einmal möglich und das müsste auch wieder möglich werden.»
Auch auf einen Strompreis lässt sich Pautz heraus, räumt aber ein, dass dieser auf verschiedenen Annahmen beruhe. «Wir gehen davon aus, dass der Gestehungspreis für Strom aus neuen Kernkraftwerken zwischen 7 und 12 Cent pro Kilowattstunde liegen wird.» Im Juli 2024 hat die Kilowattstunde Strom auf dem europäischen Markt knapp 7 Cent gekostet. Die Ökonom*innen von Lazard haben Anfang 2024 gemäss «Wirtschaftswoche» die tatsächlichen Kosten für die Erzeugung einer Kilowattstunde Atomstrom auf 18 Cent berechnet.
Die heutigen Kosten sind das eine. Entscheidend für ein neues Schweizer AKW wären aber jene in 15 oder 20 Jahren. Und ebenso der Preis für Strom aus erneuerbaren Quellen 2040 oder 2050. ETH-Dozent Schaffner merkt an, dass in Europa mit dem Ausbau der Erneuerbaren die Auslastung der AKW sinken werde, was deren Kosten deutlich erhöhen könnte.
Der VSE relativiert: «Die Wirtschaftlichkeit ist bei allen Technologien eine grosse Herausforderung. Die Wirtschaftlichkeit neuer Kernkraftwerke ist in der Schweiz momentan nicht gegeben.» Ohne staatliche Subventionen seien auch in der Schweiz neue AKW kaum realisierbar. Unabhängig vom Bundesratsentscheid steht für den VSE fest: «In den nächsten 10 bis 15 Jahren ist der Ausbau der erneuerbaren Energien alternativlos.»
Ein neues Schweizer AKW bleibt wenig realistischer
Heute fehlen in der Schweiz die gesetzlichen Grundlagen, um die Kernenergie staatlich zu fördern, das hat auch Energieminister Rösti eingeräumt. Die Befürworter schielen deshalb schon auf die für den Ausbau der Erneuerbaren gesprochenen Gelder. Die Gegner*innen der Kernkraft halten davon wenig überraschend nichts.
Die Reaktionen auf den angedeuteten Ausstieg aus dem Atomausstieg ist ein Vorgeschmack darauf, welche politischen Kämpfe ein AKW-Neubau gewinnen müsste. Der Entscheid des Bundesrats gibt der Debatte etwas mehr Raum. Dass in der Schweiz tatsächlich ein neues Kernkraftwerk realisiert wird, ist damit nur ein bisschen realistischer geworden.