Kiews Armee hat ein Personalproblem «Alle drücken der Ukraine die Daumen, dann rennen sie davon»

tafi/dpa

21.12.2023 - 00:00

Ukrainische Armee fordert 450 000 neue Soldaten

Ukrainische Armee fordert 450 000 neue Soldaten

Die ukrainische Armee hat 450'000 neue Soldaten angefordert: Für Präsident Wolodymyr Selenskyj ist die Mobilisierung eine teure und politisch heikle Frage. Für ihn ist es wichtig, dass bisher kämpfende Soldaten ein Recht auf Erholung und Heimaturlaub bekommen.

20.12.2023

Die ukrainische Armee braucht bis zu 500'000 neue Soldaten: Für Präsident Wolodymyr Selenskyj ist die Mobilisierung eine teure und politisch heikle Angelegenheit. Derweil hofft Moskau, dass Kiew die Kämpfer ausgehen.

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Die finanzielle Unterstützung des Westens bröckelt, Waffenlieferungen verzögern sich, und nun fehlen auch noch die Kämpfer: Die ukrainische Armee hat zurzeit erheblich Sorgen.
  • Präsident Wolodymyr Selenskyj muss vor allem das Personalproblem lösen: Die Armeechefs fordern bis zu 500'000 neue Kämpfer, um gegen die russischen Invasoren zu bestehen.
  • Ukrainische Männer im wehrfähigen Alter versuchen allerdings, dem Militärdienst mit allen (auch nicht legalen) Mitteln zu entkommen.

Für die Verteidigung gegen Russland fordert das ukrainische Militär neben westlichen Waffen neu auch mehr Soldaten. Die Mobilmachung von Kämpfern für die Verteidigung des Landes gegen die russische Invasion stellt den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vor ein grosses Problem. «Die Frage der Mobilisierung ist eine sehr sensible», ist sich Selenskyj bewusst.

Seit Monaten schon fordern die Kommandeure seiner mit westlichen Waffen ausgerüsteten Streitkräfte mehr Personal für den Fronteinsatz. Von einem Bedarf von 450'000 bis 500'000 zusätzlichen Soldaten ist die Rede. Aber neben den Kosten, die laut Selenskyj bei umgerechnet rund 11,5 Milliarden Franken liegen und ohnehin erst noch aufgebracht werden müssen, gibt es auch ein Motivationsproblem.

Flucht und Schmiergelder

Zu Tausenden versuchen Männer, dem Kriegsdienst durch Flucht ins Ausland zu entgehen. Die Kontrollen an den Grenzen sind streng, Beamte durchsuchen Autos und reissen Verkleidungen in Zügen auf. Immer wieder werden auch an der grünen Grenze zu Rumänien Männer aufgegriffen. Bekannt sind zudem viele Fälle, in denen sich Wehrpflichtige in Musterungsstellen mit Schmiergeldern vom Dienst freikaufen.

Selenskyj für das dritte Kriegsjahr nicht nur um die finanzielle Unterstützung durch die westlichen Verbündeten bangen. Er muss auch das Personalproblem in der Armee lösen. Täglich gibt es viele Tote und Verletzte, Tausende ukrainische Soldaten sind in Gefangenschaft.

In der Armee und bei den daheim wartenden Familien wird diskutiert, welche Soldaten wann das Recht auf Ablösung und Heimaturlaub bekommen sollten. Wenn es um eine Mobilisierung gehe, müsse auch der Prozess der Demobilisierung genau geklärt werden, sagte Selenskyj bei seiner Jahrespressekonferenz.

Männer sollen zur Musterung

Sichtbar wird die verzweifelte Suche nach neuen Soldaten auf Märkten, in Einkaufszentren, Restaurants, Fitnessstudios oder in Kurbädern. Oft rücken teils schwerbewaffnete Militärs an und versuchen, Männer zur Musterung mitzunehmen.

Zwar sagte Selenskyj in diesem Jahr bei der EU in Brüssel: «Wir können nicht wie Russland jemanden mit Knüppeln in den Krieg jagen.» Doch zugelich machten Videos die Runde, auf denen zu sehen war, wie kriegsunwillige Männer verprügelt und mit Gewalt in die Wehrämter gebracht wurden.

Nach Berichten über miserable Einberufungszahlen, systematischem Freikauf vom Wehrdienst und korrupte Mitarbeiter der Einberufungsstellen entliess Selenskyj im August alle Regionalchefs der Wehrämter. Ohne Erfolg: Die Mobilisierungszahlen brachen noch weiter ein.

Militärgeheimdienst-Chef: «Sie rennen davon»

Vor allem in den Grossstädten werden die Einberufungspläne laut Medien inzwischen nur noch mit einstelligen Prozentwerten erfüllt. Zwar dürfen Männer im wehrfähigen Alter zwischen 18 und 60 Jahren nicht ausreisen, dennoch steigen die Fluchtversuche. Wie vieledavon erfolgreich sind, kann nur geschätzt werden. Allein in den EU-Staaten waren im Oktober nach Angaben der Statistikbehörde Eurostat mehr als 700'000 ukrainische Männer zwischen 18 und 64 Jahren als Flüchtlinge registriert.

Der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Kyrylo Budanow, hat dafür eine Erklärung. Ihm zufolge rufe zwar die Mehrheit der Leute gern: «Ich bin Ukrainer – Ukraine über alles.» Doch im Kern würden sie sich nicht als Bürger der Ukraine fühlen und deshalb auch keine «heilige Pflicht» zu deren Verteidigung sehen.

«Alle drücken der Ukraine die Daumen, doch dann rennen sie davon», sagte der Geheimdienstler unlängst auf einer Diskussionsveranstaltung. Mit Freiwilligen seien die Lücken an der Front nicht mehr zu schliessen. Daher komme das Land nicht um eine zwangsweise Mobilmachung herum.

Unpopuläre Lösungsansätze

Angesichts der schwierigen Situation sieht sich die Regierung zu unpopulären Schritten gezwungen. Für den leichteren Zugriff auf mehr als 400'000 junge Männer soll das Reservistenalter von 27 auf 25 Jahre gesenkt werden.

Zudem wurden die Kriterien für die Diensttauglichkeit aufgeweicht. Männer mit nur einem Arm oder einem amputierten Unterschenkel gelten demnach als bedingt diensttauglich.

Auch die Einberufung von Frauen steht zur Diskussion. Selenskyj lehnt eine Gesetzesänderung dazu jedoch bisher ab. Mehr als fünf Prozent oder rund 43'000 Angehörige der Streitkräfte sind schon jetzt Frauen, davon über 5000 unmittelbar an der Front.

Eine schnelle Lösung für das Personalproblem der Armee ist nicht in Sicht. Der frühere Aussenminister Wadym Prystajko brachte zuletzt die Idee des Einsatzes westlicher Soldaten – beispielsweise Grossbritanniens – ins Spiel. Für den Fall einer «katastrophalen Entwicklung des Krieges» sei das ein Weg. 

Bei den westlichen Verbündeten gilt der Einsatz ausländischer Soldaten bisher als tabu. Allerdings weiss die Ukraine auch, dass der Westen mit seinen Panzer-, Raketen- und angekündigten Flugzeuglieferungen schon andere Tabus über Bord geworfen habe. Die Hoffnung auf Hilfe ist gross.

Kreml bietet hohen Sold

Kremlchef Wladimir Putin, der seit dem 24. Februar 2022 einen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, kann derweil gelassen zuschauen. Er setzt seit langem darauf, dass dem überfallenen Nachbarn irgendwann die Kämpfer ausgehen.

Der russische Präsident hat nicht nur die Zahl seiner Soldaten erhöht, sondern lockt auch Tausende Freiwillige mit vergleichsweise hohem Sold an die Front. Und Putin tönt, die Initiative im Krieg liege wieder bei den russischen Soldaten, während die Ukrainer in der Defensive seien.

Zwar haben die russischen Truppen insbesondere im ersten Kriegsjahr mehrfach Niederlagen einstecken müssen. Doch noch immer besetzen sie fast ein Fünftel des ukrainischen Staatsgebiets. Von den über 800'000 ukrainischen Soldaten in den Streitkräften sollen rund 300'000 unmittelbar an der fast 1000 Kilometer langen Front im Einsatz sein.

tafi/dpa