Auslegeordnung Drei Szenarien, wie der Krieg in der Ukraine enden könnte

Von Tobias Benz

10.12.2023

In der Ukraine herrscht seit bald zwei Jahren Krieg. Ein Ende ist nicht in Sicht.
In der Ukraine herrscht seit bald zwei Jahren Krieg. Ein Ende ist nicht in Sicht.
Bild: Kostiantyn Liberov/AP/dpa

Verhärtete Fronten und ein eisiger Kriegswinter im Anmarsch: In der Ukraine ist der Frieden auch fast zwei Jahre nach Beginn der russischen Invasion in weiter Ferne. Drei Szenarien, wie der Konflikt enden könnten.

Von Tobias Benz

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  • Eine Lösung für die Beilegung des Krieges in der Ukraine ist weiterhin nicht in Sicht.
  • Der renommierte deutsche Historiker Jörn Leonhard zeichnet verschiedene Szenarien für den Verlauf des Krieges auf und verrät, was ihm die grössten Sorgen bereitet.
  • Unter anderem bezeichnet er eine mögliche Verhandlungsbereitschaft der Ukrainer als «riskant». Damit könnte einem Aggressor wie Wladimir Putin signalisiert werden, er könne noch weitergehen.
  • Entscheidenden Einfluss auf den Ausgang des Krieges hätten die anstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA und die stark damit zusammenhängende westliche Unterstützung.
  • Auch das autokratische System Putins könnte für einen Kippmoment sorgen und den Krieg beenden, so wie das in Russland bereits während des Ersten Weltkriegs geschehen sei.

Seit Februar 2022 herrscht in der Ukraine Krieg. Nach anfänglichen Geländegewinnen der Russen gelang es den Ukrainern nach relativ kurzer Zeit, die Angreifer aufzuhalten und später sogar zurückzudrängen. Seit geraumer Zeit herrscht aber mehrheitlich Stillstand an den Fronten im Osten des Landes. Eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld ist nicht in Sicht.

Dasselbe gilt für eine Beilegung des Konflikts am Verhandlungstisch. Wie könnte es in der Ukraine also weitergehen? Der renommierte deutsche Historiker Jörn Leonhard sieht verschiedene Szenarien, wie der Krieg in der Ukraine enden könnte. Aber eines ist klar: Es könnte noch dauern.

«Ich kann verstehen, dass sich viele Menschen mit Blick auf die Ukraine oder den Nahen Osten den schnellen Weg in den Frieden wünschen. Historisch sind Wege in den Frieden aber in den seltensten Fällen kurz, vor allem bei Konflikten mit langer Vorgeschichte», erklärt der 56-Jährige in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin «Der Spiegel».

Szenario 1: Ein Patt

«Dieser Krieg begann mit der klassischen Erwartung einer schnellen Entscheidung, die wir am Beginn vieler Kriege in der Geschichte finden. Unzählige Experten prophezeiten, die Ukraine überlebe keine 72 Stunden», sagt Leonhard.

Dahinter stehe auch die Hoffnung, dass einem raschen Sieg einer Kriegspartei eine politische Lösung folgen werde. Doch habe die Unterschätzung der ukrainischen Wehrhaftigkeit und die Überschätzung der russischen Möglichkeiten einen schnellen Sieg für Putin verhindert.

«Mit Blick auf das 19. und 20. Jahrhundert spricht viel dafür, dass solche Kriege nicht mit eindeutigen Siegern und Verlierern enden, sondern erst reif für eine diplomatische Lösung werden, wenn keine Seite mehr auf einem Schlachtfeld etwas zu gewinnen hat», sagt Leonhard. Im Augenblick hätten aber beide Seiten immer noch die Hoffnung auf einen militärischen Erfolg.

Zudem könne es gefährlich sein, Bereitschaft für Verhandlungen zu signalisieren. «Ein solches Signal kann die Neigung des Gegners, den Krieg fortzusetzen, sogar befeuern. Wer zu einseitigen Konzessionen bereit ist, deutet damit für einen entschlossenen Gegner Schwäche an.»

Das habe sich beispielsweise während der 1930er-Jahre bestätigt, als die Beschwichtigungspolitik der Briten und Franzosen Hitler in seiner Auffassung bestätigte, seinen Aggressionskurs fortsetzen zu können. Dasselbe könnte auch heute passieren. «Damit würde man einem Aggressor wie Putin signalisieren: Du kannst noch weitergehen.»

Szenario 2: Russland setzt sich durch

Einem Patt würde gemäss Leonhard ein Krieg der Ressourcen vorangehen, der noch lange dauern könnte. Im Zentrum dieses Konflikts stehe vor allem die Frage: Wie lange hält der Westen noch zur Ukraine?

Denn der Rückhalt bröckelt. Unter den Verbündeten der Ukraine mehren sich die Zweifel. Waffenlieferungen bleiben aus, Fragen zur finanziellen Unterstützung kommen auf und die US-Präsidentschaftswahlen 2024 drohen ohnehin, alles auf den Kopf zu stellen.

«Was würde passieren, wenn nächstes Jahr Donald Trump gewählt wird? Bricht dann die Hilfe für die Ukraine ab? Nichts spricht für eine Konzessionsbereitschaft von Putin, bevor er nicht weiss, wer der nächste US-Präsident sein wird», erklärt Leonhard. Seit dem Erscheinen des «Spiegel»-Interviews wurde zudem bekannt, dass Putin 2024 für eine Wiederwahl als russischer Präsident antritt

«In diesem Krieg geht es auch darum, was der Westen ist, als wie widerstandsfähig er sich erweist. Und es ist ein Krieg um eine sich verändernde Weltordnung mit abnehmenden Sicherheiten, wie der Blick auf China oder die Reaktionen Indiens oder Brasiliens zeigen», so Leonhard.

Bei einem Sieg Russlands könnte China entsprechende Konsequenzen für die Taiwan-Frage ziehen, was eine Vielzahl neuer Konflikte anheizen würde. Peking betrachtet den Inselstaat vor seiner Küste weiterhin als Teil Chinas und droht immer wieder mit einer gewaltsamen Annexion. «Für Europa und die USA geht es um die Ausgangsbedingungen für eine neue Weltordnung und um die Widerstandsfähigkeit der Demokratie.»

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Szenario 3: Implodiert das russische Regime?

Die Demokratie könnte dem Westen aber auch den entscheidenden Vorteil verschaffen. «Es gibt Kippmomente in Kriegen, in denen die Legitimation von Systemen erodieren kann. Der Sieg der Demokratien im Ersten Weltkrieg war kein Zufall, weil sie die Verteilung der Kriegslasten langfristig besser vermitteln konnten und auch in Krisen glaubwürdig blieben», so Leonhard.

Diese Legitimation des politischen Systems könne in autokratischen Militärmonarchien unter Druck geraten. Dies sei in Russland beispielsweise während des Ersten Weltkriegs geschehen, später dann auch in Deutschland.

Wann es im heutigen Russland zu einem Umsturz kommen könnte, sei aber sehr schwierig zu sagen. «Es kann viel Zeit vergehen, bis solche Kippmomente eintreten», erklärt Leonhard.

Solange dies nicht geschehe, könne der Weg in den Frieden nur über Waffenpausen beschritten werden. «Es braucht einen Waffenstillstand, der Deeskalation durch Internationalisierung und die Suche nach Vermittlern erlaubt», sagt Leonhard. Und hier sieht der Historiker eines der Kernprobleme: «Die Abwesenheit von glaubwürdigen Vermittlern macht mir die grössten Sorgen.»