Kommentar Was Rammstein von Helene Fischer unterscheidet

Von Lukas Rüttimann

12.6.2023

Wie der Fall Rammstein die düsteren Wurzeln der Rockmusik in Erinnerung ruft. Und weshalb es nicht überraschen darf, wenn sich bei den deutschen Schockrockern Abgründe auftun.

Von Lukas Rüttimann

Nachdem bereits sehr viele ihre Meinung zum Fall Rammstein und Till Lindemann dargelegt haben und sich Leute auf Social Media mittlerweile sogar rechtfertigen, warum sie nichts zum Themenkomplex sagen – braucht es hier noch einen weiteren Kommentar?

Wahrscheinlich nicht.

Immerhin aber kann ich ins Feld führen, dass ich die Band zwei, drei Mal näher als viele, die sie nun be- und verurteilen, erlebt habe. Das erste Mal noch vor dem Erscheinen ihres Debütalbums, irgendwann im Sommer 1995. In diesen Jahren veranstalteten Plattenfirmen noch sogenannte Showcases für besonders hoffnungsvolle Newcomer.

Als solche spielten die damals noch völlig unbekannten Rammstein für eine Handvoll Journalisten und Veranstalter im alten Palais X-tra in Zürich eine Quasi-Privatshow in voller Montur. Till Lindemann trug auf der Bühne eine Art Kettenhemd sowie Fitnesshandschuhe mit abgesägten Stahlrohren an den Fingern.

Das Ganze erinnerte eher an das Ergebnis eines Bastelkurses unter Pyromanen als an einen professionellen Spezialeffekt. Dennoch feuerte Lindemann aus diesen Handschuhen laut knallendes Pyro-Feuerwerk ab; gerade so, als wären Rammstein schon damals grösser als Kiss gewesen. Es war ein surreales Erlebnis mit dem Geruch von Gefahr und Grössenwahn in der Luft. Und die Feuerpolizei war wohl auch eher nicht vor Ort.

Radikaler Grössenwahn

Lindemanns Radikalität hat mich beeindruckt. Und sie tut es bis heute. Sie ist ein Grund, weshalb es die Band so weit gebracht hat. In den folgenden Jahren habe ich die Band ein paar Mal zu Interviews getroffen. Einmal auch Till Lindemann.

Im Gespräch wirkte er so, wie er privat in diesen Tagen oft beschrieben wird: höflich, zurückhaltend, intelligent – aber irgendwie auch getrieben und gequält. Letzteres kann natürlich an den Fragen gelegen haben. Dennoch: Dass dieser Mann seine lyrischen Ergüsse nicht via ChatGPT verfasst, war offenkundig.

Maximale Wirkung

Rammstein waren aber auch stets eine sehr berechnende Band. Maximale Schocks für den grösstmöglichen Effekt. Ihr bester Song «Links 2 3 4» ist ein perfektes Beispiel: Die Band war um die Jahrtausendwende wegen ihrer Spielerei mit Nazi-Symbolik ins Kreuzfeuer der Kritik geraten.

Als Antwort gab's den smarten Refrain «Mein Herz schlägt links» (wo auch sonst – aber eben, man kann's politisch interpretieren), gefolgt von einem martialischen Stampfrhythmus und Lindemanns militärischem «Links zwei, drei, vier, links zwei, drei, vier». Klängen also, die so auch auf dem Album einer deutschen Rechtsrockband auftauchen könnten.

Die volle Provokation, sich nicht festlegt, durch diese Nichtfassbarkeit alle Lager bedient – und die angerichtete Aufregung kongenial bewirtschaftet. Dieses Konzept hat die Band ganz nach oben gebracht. Rammstein sind heute längst ein Mainstream-Act; im Publikum finden sich Menschen, die auch an Schlagerfestivals zu sehen sind. Das unterscheidet die Deutschen von Genre-Kollegen wie Marylin Manson.

Dessen ähnlich gelagerten sexuellen Fehltritte wurden als Taten eines abgedrehten Schockrockers einfach akzeptiert und interessierten – zumindest hierzulande – weit weniger.

Grenzwertiges Verhalten

Auf die Schlagzeilen der letzten Tage hätten Lindemann und Band dennoch sicher verzichten können. Dabei wussten alle in der Musikszene, was läuft. Schon vor 20 Jahren hörte man aus dem Umfeld der Band, dass Lindemann in Sachen Groupies zuweilen grenzwertig unterwegs ist.

Bloss: Wo liegt die Grenze? Led Zeppelin wurden für ihre Eskapaden als Götter verehrt. Mötley Crüe, die auch bald in der Schweiz spielen, wurden für frauenverachtendes Verhalten samt entsprechender Prahlerei in ihrer Autobiografie «The Dirt» bis vor kurzem abgefeiert.

Klar: Die systematische Effizienz, wie Lindemann Frauen offenbar rekrutieren liess, ist so fragwürdig wie unsexy. Und falls wirklich Drogen, Minderjährige, nicht vereinbarter Sex und/oder Gewalt im Spiel waren, ist das nicht zu entschuldigen und sollte seine juristischen Folgen haben.

Doch Verteufelung, Hass und Hetze sind Stand heute fehl am Platz. Wenn sich ein Musiker zudem während des Konzerts – wo er eigentlich glücklich sein müsste – unter der Bühne oral befriedigen lassen muss, ist das keine Form von Rock-and-Roll-Exzess. Es ist schlicht und einfach Suchtverhalten.

Abgründe gehören zur Rockmusik

Die aktuellen Geschehnisse rund um Till Lindemann sind eine Erinnerung, dass Abgründe zum Showbusiness, speziell zur Rockmusik, dazuzugehören scheinen. In Zeiten, in denen sich schon 12-Jährige jede satanistische Raserei oder gewaltverherrlichende Reime mit einem Herzchen-Klick auf die persönliche Playlist laden können, geht das mitunter vergessen.

Blinkende Teufelshörner oder lustige Trinkbecher können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Erfolg vieler Stadion-Acts von dunklen Seiten begleitet, oft sogar erst durch sie ermöglicht wird. Wer das nicht akzeptieren will oder anders sieht, hat dazu selbstverständlich sein gutes Recht.

Er oder sie sollte sich dann aber auch überlegen, ob er bei Liedern über Sonne und Engel nicht vielleicht doch besser bei Helene Fischer mitschunkeln will.

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