Review Beseelt, besessen und besser als der Rest: Weshalb die Jordan-Doku keinen kalt lässt

Von René Weder

6.5.2020

Sie ist die vielleicht bedeutendste Sport-Dokumentation der letzten Jahre: «The Last Dance» von ESPN und Netflix gewährt tiefe Einblicke in die grosse Dynastie der Chicago Bulls der 90er-Jahre. Hauptdarsteller Michael Jordan erscheint dabei nicht nur als Gott, wie Larry Bird einst proklamierte, sondern auch in einem anderen Licht – und das ist in Ordnung so. Etwas Menschlichkeit tut seinem Nimbus ohnehin keinen Abbruch.

Sonntagabend für Sonntagabend versammelt sich Sport- und Basketball-Community seit nunmehr drei Wochen vor den TV-Geräten. Wohl auch mangels Live-Alternativen geniesst der 10-Episoden-Blockbuster nicht nur in den USA riesige Aufmerksamkeit. Entsprechend hoch gehen die Wogen jeweils im Anschluss auf den sozialen Kanälen, wo sich die Zuschauer über das Gesehene austauschen und heftig debattieren.



Die Pro-Jordan-Fraktion ist elektrisiert, denn die Dokumentation zeigt eindrücklich, mit welcher Hingabe der Superstar der Chicago Bulls seine Teamkollegen zu nicht weniger als sechs Meisterschaften antrieb. Jordan ordnete dem Erfolg alles unter. Das bekamen nicht nur seine Gegner, sondern auch die eigenen Mitspieler, die Betreuer und die Herren aus der Teppichetage der Franchise zu spüren. «Nicht Spieler gewinnen Titel, sondern Organisationen», sagte etwa der inzwischen verstorbene, gleichsam erfolgreiche wie umstrittene General Manager Jerry Krause einst in einem Interview. Eine Aussage, die ihm Jordan auch dreissig Jahre später und posthum noch übel nimmt.

Michael Jordans grösste Erfolge
Bild: Getty

▶️ Sechsfacher NBA-Champion
▶️ Zweifacher Olympiasieger
▶️ Fünffacher MVP der NBA
▶️ Sechsfacher NBA-Finals-MVP

Differenzierte Huldigung einer globalen Ikone

Zwischen 1991 und 1993 sowie 1996 und 1998 gelang den Bulls schier Unmögliches: der zweifache «Tree-Peat». «The Last Dance» legt den Fokus auf die letzte Saison der Bulls-Dynastie, als klar war, dass Erfolgstrainer Phil Jackson, der sich als charismatischer und emphatischer Dompteur seiner Star-Equipe offenbart, keinen neuen Vertrag erhalten und mit ihm auch Michael Jordan «The Windy City» verlassen (oder zurücktreten) wird.

Der bisweilen spektakuläre Einblick in die Jordan-Ära beinhaltet aber viel mehr als eine Huldigung einer globalen Ikone, die es schaffte, ihre Sportart weit über den amerikanischen Kontinent hinaus bekannt und beliebt zu machen. Spätestens nach den Olympischen Sommerspielen in Barcelona 1992 und dem Auftritt des einzig wahren «Dream Team» erreichte der Basketballsport weltweite Aufmerksamkeit – und Michael Jordan Heldenstatus.

The Last Dance (2020)
Bild: Netflix

Mit unveröffentlichten Aufnahmen der Saison 1997/1998 bietet die 10-teilige Doku-Serie von ESPN und Netflix tiefe Einblicke in Michael Jordans Karriere und die Chicago Bulls der 1990er-Jahre. Regisseur Jason Hehir konnte auf Material zurückgreifen, das eine Filmcrew der NBA in jenem Jahr exklusiv gesammelt hatte. Die Ausgangslage hätte spannender nicht sein können: Seit Jahren dominieren die Chicago Bulls die Liga, nun bereiten sie sich auf ihre letzte gemeinsame Spielzeit vor – den letzten Tanz. 

«Jeder afroamerikanische Sportler trägt eine Bürde»

Jordan beherzigte sich zeit seiner Karriere des Grundsatzes, nur über Sport zu reden. Politisch wollte er sich nie äussern oder positionieren, was in Episode 5 auch vom ersten schwarzen US-Präsidenten, Barack Obama, der die Bulls-Jahre in Chicago und die Entstehung der Faszination um die Marke Michael Jordan miterleben konnte, kritisch kommentiert wird: «Jeder afroamerikanische Sportler trägt eine Bürde», so Obama. Man erwartete von Jordan auch politische Positionierungen, wie sie der grosse Muhammad Ali eingenommen hatte.

Zwei Legenden des Sports auf einem Foto: Michael Jordan und Muhammad Ali.
Zwei Legenden des Sports auf einem Foto: Michael Jordan und Muhammad Ali.
Bild: Getty

Doch Jordan machte sich mit einer Aussage, wonach auch «Republikaner Turnschuhe kaufen», und seinem Fokus auf die eigenen Interessen auch Feinde. Nathan McCall, damaliger Journalist bei der «Washington Post» ging noch weiter und sagte: «Michael Jordan könnte in Vergessenheit geraten. Muhammad Ali wird man nie vergessen». So falsch diese Aussage rückblickend auch gewesen sein mag, so deutlich zeigt sie, dass man von Jordan mehr erwartete, als Körbe zu werfen. Dieser Wunsch ging aber nicht mit der Tatsache einher, dass Jordan längst der bedeutendste Werbeträger der Geschichte war.

«Be Like Mike»

Er holte mit seiner zögerlichen Vertragsunterschrift beim serbelnden Sportartikelhersteller Nike den Konzern aus dem Sumpf, verdiente in den Jahrzehnten danach hunderte von Millionen mit seinem eigenen Ableger «Air Jordan», liess sich als Gesicht für McDonalds einspannen oder für den Getränkehersteller Gatorade. «Be Like Mike» war nicht nur ein platter Werbeslogan, sondern Leitsatz vieler junger Sportler, ja für eine ganze Generation, die eben sein wollte wie Jordan: schnell, kräftig und verdammt gutaussehend.

Pflegte die Gesetze der Schwerkraft regelmässig ausser Kraft zu setzen: Jordan auf dem Weg zum Korb.
Pflegte die Gesetze der Schwerkraft regelmässig ausser Kraft zu setzen: Jordan auf dem Weg zum Korb.
Bild: Getty

Jordan hatte ein lupenreines Image, er gilt bis heute vollkommener Athlet. Weder Affären noch Geschichten über seine Spielsucht konnten der Reputation des von der NBA als besten Basketballer der Geschichte definierten Sportlers etwas anhaben. Und doch gibt es eben auch die andere Seite, die trotz Jordans Versuchen, die Dokumentation nicht in diese Richtung gehen zu lassen, thematisiert werden.

Die Rivalität Jordans mit Isiah Thomas etwa ist legendär. Der Spieler der Detroit Pistons war ein «Bad Boy», dass ihn Jordan aber auch fast drei Jahrzehnte später noch als «Arschloch» bezeichnet, zeugt nicht von Grösse. Schliesslich hatte der fünffache MVP («Most Valuable Player») bereits erfolgreich verhindert, dass Thomas Teil des Dream Teams wird, auf dessen Mitgliedschaft dieser rein sportlich gesehen zweifelsfrei Anrecht gehabt hätte.

Jordan lobt das Spiel von Isiah Thomas (Bild), hält aber sonst keine grossen Stücke auf den Point Guard.
Jordan lobt das Spiel von Isiah Thomas (Bild), hält aber sonst keine grossen Stücke auf den Point Guard.
Bild: Keystone

«Nimmst du diese Pillen, um klein zu bleiben?»

Mit Jerry Krause, dem eingangs erwähnten General Manager, hatte sich Jordan schnell überworfen. Der umtriebige Manager gilt neben Bulls-Inhaber Jerry Reinsdorf und Trainer Phil Jackson als Baumeister der Dynastie. Gerne hätte sich Jordans optischer Antipode öfter im medialen Scheinwerferlicht gesehen, was zu seinem grossen Problem werden sollte. Denn die Stars hiessen Jordan, Pippen, Rodman und Co. – und nicht Krause.

Jordan wiederum machte sich gerne über den Manager lustig. «Nimmst du diese Pillen, um klein zu bleiben?», fragte er ihn während einer Trainingseinheit lachend. Krause interpretierte seine Funktion zuweilen falsch, was nicht zur guten Stimmung beitrug. Derweil Krause im Hintergrund die Fäden zog, sodass die erfolgreichste Mannschaft der Basketball-Historie in dieser Form nicht über den Sommer 1998 Bestand haben wird, reihten die Bulls einen Titel an den anderen. Doch die Mischung war explosiv – und die Trennung eine Frage der Zeit.

Jammerschade, kommt Jerry Kraus (links, † 2017) in der TV-Dokumentation nicht mehr zu Wort. Er hätte bestimmt einiges zu erzählen gehabt.
Jammerschade, kommt Jerry Kraus (links, † 2017) in der TV-Dokumentation nicht mehr zu Wort. Er hätte bestimmt einiges zu erzählen gehabt.
Bild: Getty

Auch wenn die ganz grossen Sensationen ausbleiben, so zeigt «The Last Dance» zahllose spannende Einblicke in die Organisation der Bulls. Die dynamisch produzierte Dokumentation springt dabei auf der Zeitachse zwischen Jordans Anfängen in den frühen 80er-Jahren und seinem zweiten Rücktritt 1998 hin und her.

Mal geht es um die Geschichte von Dennis Rodman, dem Exzentriker, dessen Ex-Freundin Carmen Electra medienwirksam intime Details verrät. Dann um Jordans kongenialen Partner Scottie Pippen, den wohl zweitbesten (aber viel zu schlecht bezahlten) Spieler dieser Zeit, der in erster Linie spielen wollte, um seine grosse Familie unterstützen zu können. Der tödlich verunglückte Kobe Bryant, Jordans designierter Nachfolger und «kleiner Bruder» hat ebenso seinen Auftritt wie Toni Kukoc, das kroatische Kriegs- und Wunderkind, das zunächst mit breiter Ablehnung im Land der unbegrenzten Möglichkeiten empfangen wurde.

10 Episoden, 100 Gesprächspartner und 1000 Geschichten: So lässt sich «The Last Dance» zusammenfassen. Eine Dokumentation, die sich kein Sport-Fan entgehen lassen sollte. Schon gar nicht in Zeiten von Corona. Denn Jordan ist und bleibt der beste und wohl auch faszinierendste Basketballer der Geschichte. 



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