Die Coronakrise löste im Tennis-Zirkus ein mittleres Erdbeben aus: Spieler, Fans, Experten – viele Exponenten werfen mit Vorwürfen und Anschuldigungen nur so um sich. Für die Fans sind das nicht nur schlechte Nachrichten.
Das ganze Chaos rollen wir an dieser Stelle nicht im Detail auf, vielmehr nehmen wir einige Top-Shots unter die Lupe und wagen eine Prognose, wie sich die Tennis-Welt aufgrund der Geschehnisse der letzten Wochen und Monate verändern könnte. Eines scheint klar, die Stimmung auf den Tennis-Plätzen (und auf den Zuschauerrängen) dürfte gehässiger denn je sein. Das Klima ist derart vergiftet, dass die Wogen schon mal hochgehen werden. Alles unter der Voraussetzung, dass überhaupt bald wieder gespielt wird.
Der Sündenbock
Novak Djokovic
Mit seiner Adria Tour hat sich Novak Djokovic ausserhalb von Serbien keine neuen Freunde gemacht. Aus der Bahn werfen wird das die Weltnummer 1 kaum. Schon vor der Krise musste er sich selbst überlisten, um sich geliebt zu fühlen. Nach dem Wimbledon-Final 2019 meinte er etwa: «Wenn die Zuschauer ‹Roger› rufen, höre ich ‹Novak›!» Kraft findet der Impfstoff-Gegner abseits des Platzes, etwa wenn er wie zuletzt mit einem Guru die «Heil-Pyramiden» in Visoko besucht. Dass sein Vater erneut Giftpfeile in Richtung Federer abfeuerte, ist die Kirsche auf dem Sahnehäubchen.
Der Egoist
Dominic Thiem
Der Österreicher mutierte innert weniger Wochen zu einer der ganz grossen Reizfiguren. Erst kritisierte er den Hilfsfonds für schlechter klassierte Spieler, dann nahm er an der Adria Tour teil. Positiv getestet wurde er nie, was ihn zu einem Scherz verleitete, der vielerorts nicht sonderlich gut ankam. «Ich bin der negativste Typ auf der Tour», meinte er an einer Pressekonferenz, sich des Ernstes der Lage offenbar noch immer nicht bewusst. Thiem wird das alles nicht aus der Bahn werfen, er ist mental stark und die Meinung anderer schien ihn bislang ohnehin nur am Rande zu interessieren.
Der Heuchler
Alexander Zverev
Ach Gott, was hat sich dieser 23-Jährige bloss gedacht. Knapp eine Woche nach dem vorzeitigen Abbruch der Adria Tour geht ein Video um die Welt, das den Deutschen beim Partymachen zeigt. So sieht also seine selbstauferlegte Selbstisolation aus … Die Welle der Entrüstung dürfte Zverev mehr zu schaffen machen als anderen Top-Shots. Zverev hat in Vergangenheit oft sensibel auf Kritik von aussen reagiert, mental gehört er sicher noch nicht zur Weltelite. Es würde überraschen, ginge das alles spurlos an ihm vorbei. Zverev wird beim Restart kaum auf der Höhe sein.
Der Ruhepol
Rafael Nadal
Der Spanier gibt sich in der Krise – ähnlich wie Federer – ziemlich wortkarg. Das kommt nicht überall gut an: Vorwürfe werden laut, wonach sich die Topspieler zu wenig für den grossen Rest einsetzten. Dies, obwohl die «Big Three» einen Hilfsfonds für schlechter klassierte Spieler ins Leben gerufen hatten. Nadals Beliebtheitswerte tangiert das alles nicht, dafür polarisiert der Sandplatz-König schlichtweg zu wenig.
Der Schuhverkäufer
Roger Federer
Der Schweizer ist verletzt, plant aber 2021 auf die Tour zurückzukehren mit dem grossen Ziel vor Augen, bei den Olympischen Spielen, so sie denn im Sommer 2021 stattfinden, zu triumphieren – stolze 39 Jahre alt wird er dann sein. Im Gegensatz zu Novak Djokovic warnte er schon zu Beginn der Coronakrise vor dem Virus. Federer reagierte auf den Aufruf von Bundesrat Alain Berset und meinte: «Bleibt jetzt zu Hause. Nehmt die Sache ernst.» Bei seiner Rückkehr wird er mit Sicherheit noch immer der Liebling der Massen sein, selbst dann, wenn er noch weitere Tennisschuhe für stolze 310 Franken auf den Markt bringt.
Die tickende Zeitbombe
Daniil Medvedev
Der Russe hat keine Schlagzeilen generiert, zumindest hätten wir davon keine Kenntnis genommen. Ist er einer der wenigen Topspieler, die den Fokus nicht verloren haben und die Konkurrenz beim Restart in Grund und Boden spielen werden? So weit würden wir nicht gehen, doch mit dem 24-Jährigen ist sicher zu rechnen. Medvedev ist allerdings alles andere als eine Schmusekatze, seine Ausraster auf den Courts sind teils legendär – und von denen wird es wohl auch in Zukunft noch den einen oder anderen geben.
Der Papa-Bändiger
Stefanos Tsitsipas
Der Grieche war in der Coronakrise damit beschäftigt, seinen Vater zu verteidigen. Bei einem Mini-Turnier in Nizza fühlte sich Corentin Moutet von Papa Tsitsipas so sehr provoziert, dass er ihn regelrecht anbrüllte. An der medialen Corona-Schlammschlacht hat sich der 21-Jährige aber kaum beteiligt. Tsitsipas feilt lieber weiter an seinen Skills. Mit ihm ist auch nach der Coronakrise zu rechnen.
Die hilfsbereite Skandalnudel
Nick Kyrgios
Nick Kyrgios galt lange als DER Rüpel auf der Tour. In Krisenzeiten zeigt er aber ein grosses Herz. Anfang Jahr lancierte er für die Opfer der Buschbrände in Australien eine Spendenaktion und während der Coronakrise bot er früh seine Hilfe an – für jedermann.
Seiner Linie, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, bleibt er aber treu: Djokovic, Thiem oder Zverev – sie alle bekommen ihr Fett ab. Und aktuell erhält er dafür viel Zuspruch. Spätestens seit er auf Instagram live mit Andy Murray ein paar Worte tauschte, ist auch klar, dass all seine guten Taten nicht zum Ziel haben, sein Bad-Boy-Image zu korrigieren. Sichtlich angetrunken wetterte er gegen das gesamte Laver-Cup-Team der Europäer – Murray schien überfordert und versuchte das Gespräch in andere Bahnen zu lenken.
Kyrgios ist und bleibt eine Wundertüte. Freuen darf man sich auf seine Spiele gegen die von ihm ins Visier genommenen Weltstars. Gut möglich, dass der 25-Jährige seine Gegner mit Provokationen zur Weissglut treiben wird – und ein emotionsgeladener Kyrgios ist auch in der Lage, die besten der Welt vom Platz zu fegen. Auf seine Auftritte sind wir definitiv gespannt.