Vom Sturzpiloten zum Spitzenfahrer Odermatt-Herausforderer Sarrazin leitete seinen steilen Aufstieg mit innerer Arbeit ein

sda/lih

6.12.2024 - 07:00

Cyprien Sarrazin blickt der ersten Abfahrt der Weltcup-Saison entgegen.
Cyprien Sarrazin blickt der ersten Abfahrt der Weltcup-Saison entgegen.
Barbara Gindl/APA/dpa

Cyprien Sarrazin hat sich im Inneren überwinden müssen, um als Skirennfahrer erfolgreich zu sein. Der 30-jährige Franzose hat nach langem Ringen die mentale Seite ins Lot gebracht.

Keystone-SDA, sda/lih

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  • Cyprien Sarrazin hat einen kometenhaften Aufstieg hinter sich.
  • Vor knapp zwei Jahren nahm der jetzige Spitzenabfahrer psychologische Hilfe in Anspruch. Dieser Schritt sei ihm nicht leicht gefallen. Doch bald trug dieser Entscheid seine Früchte.
  • Der Satz von seiner Energietrainerin «Du hast das Recht zu gewinnen» beispielsweise, löste ihn Sarrazin viel aus. Vier Tage darauf gewann er im Dezember 2023 die Abfahrt in Bormio, seinen ersten Abfahrtssieg überhaupt.

Er zögert einen Moment. Die Antwort fällt ihm nicht ganz leicht. «Vermutlich nicht», sagt Cyprien Sarrazin im Zielraum der Piste Birds of Prey, auf der am Freitag die erste Weltcup-Abfahrt des Winters im Programm steht. In Beaver Creek im US-Bundesstaat Colorado hat der Aufsteiger der letzten Saison vor zwei Jahren in der schnellsten Disziplin sein Debüt auf oberster Ebene gegeben.

Nein, er wisse es nicht, schiebt Sarrazin nach auf die Frage, ob er seine mentalen Probleme offengelegt hätte damals, als er sich noch geweigert hatte, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Damals ist noch gar nicht so lange her, knapp zwei Jahre. Damals ist er in seinem einstigen Kerngebiet Riesenslalom von einer Enttäuschung zur nächsten gefahren, ist er die Bestätigung des zweiten Rangs vor nunmehr knapp fünf Jahren in Alta Badia schuldig geblieben.

«Das eigene Ich offenzulegen hat mir Mühe bereitet»

Die Zeichen haben auf Veränderungen gestanden. Die Teilnahme am Trainingslager in La Parva in Chile im vorvorletzten Sommer mit seinen Kollegen der Abteilung Speed von Frankreichs Nationalteam hat in ihm schliesslich den Entschluss reifen lassen, Abfahrt und Super-G permanent in sein Wettkampf-Programm aufzunehmen.

Der Gang zum Psychologen ist Sarrazin nicht leicht gefallen. «Das eigene Ich offenzulegen hat mir Mühe bereitet», sagt der Franzose, der sich nunmehr auch einer Energietrainerin anvertraut. Mit seinem Entscheid hat er goldrichtig gelegen. Der kometenhafte Aufstieg vom Sturzpiloten zum Siegfahrer ist Beweis genug. Sarrazin fühlt sich endlich wohl in seinem Leben – und damit natürlich auch in seinem Beruf als Skirennfahrer. «Ich fahre so Ski, wie ich bin.» Die innere Blockade ist Vergangenheit, die Emotionen, die letztmals nach der Trennung von seiner damaligen Freundin in Form von Liebeskummer in besonderer Stärke hochgekommen sind, hat er im Griff.

Verpassen der Heim-WM öffnete neues Portal

Den Sinneswandel vollzog Sarrazin während den Heim-Weltmeisterschaften vor knapp zwei Jahren, die er wegen Rückenbeschwerden verpasste, stattdessen die Rennen in Courchevel vor dem Bildschirm verfolgen musste. Auslöser der Verletzung war, so sah er es im Nachhinein, der schlimme Sturz zwei Wochen zuvor in der zweiten Abfahrt in Kitzbühel.

Die Streif hatte ihn bei der Einfahrt in die Traverse vor dem Zielhang brutal abgeworfen. Sarrazin war wieder einmal im Sicherheitsnetz gelandet. Der Draufgänger hatte es wie so oft übertrieben beim Versuch, die Limiten auszuloten. Er hatte ein weiteres Mal die Grenze des Machbaren überschritten. Hingefallen war er oft – auch deshalb, weil er mit seinen Gedanken vollends woanders war, im Kopf nicht frei war, wie er erzählte. Der Grat, auf dem er sich bewegte, war ein schmaler und gefährlicher. Die Pisten mit Tempi von weit über hundert Stundenkilometern ohne die uneingeschränkte Konzentration hinunterzublochen, war fahrlässig.

Aus Skepsis gegenüber der Psychologie wurde Überzeugung

Sarrazin fand in der für ihn zuvor verschmähten Welt der Psychologie das fehlende Teil der Lösung, um als Spitzensportler erfolgreich zu sein. Die Skepsis war bald der Überzeugung gewichen, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Er nannte vor kurzem zwei Beispiele dafür. Das erste handelt vom Abfahrtstraining auf der Streif im vergangenen Januar. «Mir unterlief genau in jener Passage ein Fehler, in der ich im Vorjahr gestürzt war. Ich sprach mit meinem Psychologen darüber – und tags darauf ging auch an besagter Stelle alles gut.»

Das zweite Beispiel betraf die Zeit kurz vor der Abfahrt in Bormio vor knapp zwölf Monaten. «Meine Energietrainerin sagte mir, dass ich das Recht habe zu gewinnen.» Sarrazin staunte vorerst. Doch vier Tage danach zauberte er auf der berüchtigten Piste Stelvio eine Fahrt für die Geschichtsbücher hin und gewann das Rennen vor Marco Odermatt. Es war sein erster Sieg beim erst zehnten Start in einer Weltcup-Abfahrt.

Hochstapler-Syndrom bei Sarrazin ist weg

«Das Recht haben zu gewinnen». Tönt komisch, der Laie staunt ebenfalls. Der Satz hat aber einen Hintergrund namens Impostor, das so genannte Hochstapler-Syndrom, an dem Sarrazin, so hatten seine Betreuer festgestellt, gelitten hat. In der Fachliteratur wird die Persönlichkeitsstörung Menschen zugeschrieben, «die die eigene berufliche Leistung anzweifeln, die ihre objektiven Erfolge nicht den eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen zuordnen».

Derartige Symptome zeigt Sarrazin keine mehr. Vielmehr sagt er, viel über sich selber gelernt zu haben. «Mir ist bewusst geworden, wie ich nach Misserfolgen und schwierigen Zeiten funktioniere.» Für ihn sei, sagt er auch, der Weg das Wichtigste. «Die Momente des Erfolgs werden für immer bleiben. Aber alles, was wir geleistet haben, um dorthin zu kommen, wird mir mein ganzes Leben lang nützen.»

Leben im Scheinwerferlicht

Mit seiner neuen Gesinnung fährt Sarrazin buchstäblich gut, ja sehr gut – auch mit dosiertem Risiko. Sie hilft ihm in einer Arbeitswelt, die für ihn nicht mehr die gleiche ist, in der die Erwartungshaltung nach seinem durchschlagenden Erfolg im vergangenen Winter mit dem Double auf der Streif als Höhepunkt um ein Vielfaches gestiegen ist.

Sarrazin glaubt, damit umgehen zu können. «Ich setze mich nicht mehr unter Druck. Ich bin vielmehr froh, dass ich es geschafft habe, all diese Momente geniessen zu können, ohne zu weit gehen, mich der allergrössten Gefahr aussetzen zu müssen.» Vorab in seinem Heimatland ist er zu einem Mann des öffentlichen Interesses geworden. Er gibt auch in dieser Rolle sein Bestes, obwohl ihm das Leben im Scheinwerferlicht nicht sonderlich behagt.

«Mein Leben hat sich verändert. Meine Werte aber werden die gleichen bleiben. Daran halte ich fest.» Die Sätze auf die entsprechende Frage hat Sarrazin ohne Verzögerung gesprochen. Die Antwort ist ihm nicht schwer gefallen.

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