Cyprien Sarrazin entpuppt sich immer eindeutiger als der grosse Herausforderer von Marco Odermatt und zaubert eine Fabelzeit nach der anderen in den Schnee. Noch vor einem Jahr ist das auch für den Franzosen selbst unvorstellbar.
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
- Cyprien Sarrazin gewinnt in Kitzbühel beide Abfahrten und klassiert sich in den letzten fünf Speed-Rennen immer unter den besten Zwei.
- Ein solcher Höhenflug hätte sich der Franzose vor nicht allzu langer Zeit wohl selbst nicht zugetraut. Insbesondere seine zahlreichen Stürze machen ihm das Leben als Skifahrer lange schwer.
- Als Riesenslalom-Fahrer gescheitert, wagt Sarrazin mit 28 Jahren einen Neuanfang, der sich nun so richtig auszahlt.
Was ist bloss in Cyprien Sarrazin gefahren? Zuerst rast der Franzose am Lauberhorn in den beiden Abfahrten jeweils auf den zweiten Platz und kann im Super-G gar triumphieren, bevor der Franzose am vergangenen Wochenende in Kitzbühel eindrücklich nachlegt. Sowohl am Freitag als auch am Samstag weist Sarrazin Überflieger Marco Odermatt gehörig in die Schranken und schafft auf der Streif das Abfahrts-Double.
«Ich habe schön eins aufs Dach bekommen», muss Odermatt im Kitzbüheler Zielraum eingestehen und lobt seinen Herausforderer: «Cyprien hat nichts Übertriebenes versucht. Er hat momentan einen brutalen Grundspeed und nun gecheckt, dass es manchmal mit normal fahren reicht und man nicht jedes Mal alles riskieren muss für den Sieg.»
Damit trifft der Nidwaldner den Nagel ziemlich genau auf den Kopf. Denn vor nicht allzu langer Zeit hätte sich wohl selbst der Franzose nicht erträumt, in den Kampf um die Abfahrts-Kristallkugel einzugreifen.
Lauschen bei den anderen Trainern
Bereits der Weg in den Weltcup gestaltet sich für Sarrazin steinig. Erst im vergleichsweise späten Alter von 14 Jahren tritt er einem Skiclub bei und nimmt ab und zu an Rennen teil. Weil er aber als Einziger seines Skiclubs antritt, ist er auf den Besichtigungen auf sich alleine gestellt und muss jeweils versuchen, bei anderen Coaches zu lauschen. Zugleich versucht seine Mutter zu beobachten, wie die Konkurrenz ihre Ski präpariert.
Trotzdem feiert Sarrazin im Februar 2016 in Chamonix sein Weltcup-Debüt und sucht sein Glück lange im Riesenslalom. Allerdings ohne Erfolg: In 42 Riesenslaloms scheidet der Draufgänger in 13 Rennen aus, 15 Mal verpasst er die Qualifikation für den zweiten Lauf. Nur 2019 in Alta Badia schafft er es als Zweiter auf das Podest – und kann sich den Ausreisser nach oben bis heute nicht erklären.
«Mir war nicht wohl mit mir, mit meiner Art, Ski zu fahren. Ich machte mir Angst», sagt Sarrazin über seine erste Phase im Weltcup. Die Folge: Im Sommer 2022 zieht er einen Schlussstrich und legt seine Riesenslalom-Karriere auf Eis. Von einem Rücktritt will er aber nichts wissen.
Ein erstes Abfahrtstraining mit 28 Jahren
Stattdessen wagt er im Speed-Bereich einen neuen Anlauf und reist mit Frankreichs Speed-Cracks ins Trainingslager nach Chile. Mit 28 Jahren absolviert Sarrazin sein allererstes Abfahrtstraining – und stellt bereits in seinem zweiten Lauf die Bestzeit auf. Rund ein halbes Jahr später fährt er in Gröden bei seiner erst dritten Weltcup-Abfahrt auf den starken sechsten Platz.
Sarrazin wird aber auch nach dem Disziplinen-Wechsel nicht vor Rückschlägen bewahrt. Bei seiner Kitzbühel-Premiere vor einem Jahr fährt er auf Anhieb in die Top Ten. Tags darauf stürzt er in der zweiten Abfahrt aber schwer, muss die Saison vorzeitig beenden und ist auch für die Heim-WM in Courchevel/Méribel zum Zuschauen verdammt. Allerdings hat der Sturzpilot in dieser Phase nicht nur mit seinen Verletzungen, sondern auch mit Liebeskummer zu kämpfen – und holt sich Hilfe bei einer Psychologin.
Eine neue Rivalität?
In der laufenden Saison tritt Sarrazin dann wie verwandelt auf. Zwar scheidet er in der ersten Abfahrt des Weltcup-Winters erneut aus, seither liefert der 29-Jährige aber eindrückliche Resultate. Ende Dezember fährt er in Bormio zu seinem ersten Weltcup-Triumph in der Königsdisziplin und verweist Odermatt auf Platz zwei. «Für mich war das dieselbe Jahrhundertleistung, wie wenn Roger Federer an einem Grand-Slam-Turnier Rafael Nadal mit 6:0, 6:0, 6:0 bezwungen hätte», schwärmt Frankreichs Teamdirektor Frédéric Perrin in der «NZZ».
Auch Odermatt, der sich bestens an die Zeiten erinnert, als Sarrazin «gefühlt nur in den Netzen lag», ist voll des Lobes. «Cyprien bringt alles mit. Er ist ein cooler Typ, fährt cool Ski, riskiert viel», sagt der Allrounder, dessen Vorsprung im Abfahrts-Weltcup auf sechs Punkte geschrumpft. «Das ist das, was die Leute sehen wollen. Wir sind uns relativ ähnlich und verstehen uns gut.»
Den besten Beweis dafür liefern die beiden nach dem Hahnenkamm-Rennen in Kitzbühel, als sie gemeinsam oben ohne hinter der Bar des «Londoner» die Schweizer Nationalhymne singen. Wächst da die nächste grosse Ski-Rivalität heran?