Obwohl wir im Ausland um unser politisches System beneidet werden, geht oft nicht einmal jeder zweite Schweizer wählen. Politologe Daniel Kübler über die Gründe dafür – und den Haken einer Wahlpflicht.
Herr Kübler, bei den lezten National- und Ständeratswahlen 2015 lag die Wahlbeteiligung nur bei 48,5 Prozent. Weshalb sind die Schweizer solche Wahlmuffel?
Generell hat die Wahlbeteiligung in den letzten 50 Jahren in allen Demokratien abgenommen. In der Schweiz ist sie aber besonders tief – und dass weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten wählen geht, ist im westeuropäischen Vergleich die Ausnahme.
Woran liegt das?
Das hat zwei Gründe, die mit dem politischen System in der Schweiz und seinen Besonderheiten zu tun haben. Erstens verändert sich die Regierungszusammensetzung eigentlich nicht, selbst wenn die Wahlen grosse Verschiebungen mit sich bringen. Die gleichen vier Parteien stellen nun seit über einem halben Jahrhundert den Bundesrat. Dass sich die Sitzverteilung ein wenig ändert, passiert erst nach sehr langer Zeit, wie man beim zweiten SVP-Sitz gesehen hat. Darum sind die Wahlen für die Wählerinnen und Wähler nicht so spannend, weil man sich sagen kann: ‹Was soll ich auch wählen, es ändert sich sowieso nichts.›
Der zweite Grund ist die direkte Demokratie: So gibt es immer wieder Vorlagen, die das Stimmvolk ablehnt – zuletzt etwa die Unternehmenssteuerreform III, die die bürgerliche Mehrheit im Parlament nach ihrem Gutdünken ausgestaltet hatte. Die Wähler können also während der Legislatur korrigierend eingreifen. Auch das spielt eine Rolle, dass die Wahlen in der Schweiz weniger spannend sind als anderswo – und weniger Bürger wählen gehen.
Das ist doch verblüffend: Im Ausland werden wir schliesslich häufig um die direkte Demokratie beneidet.
Das ist richtig. Was man dort aber oft nicht sieht: Eine Abstimmung verlangt von den Stimmberechtigten auch sehr viel. Man muss sich informieren, sich eine Meinung bilden – dass das nicht alle können oder wollen, ist offensichtlich und mit ein Grund, weshalb die Stimmbeteiligung manchmal so tief ist.
Gibt es denn Bevölkerungsgruppen, die klassische Nichtwähler sind?
Ja, die jungen Erwachsenen unter 30, 35 gehen deutlich seltener wählen als die älteren Semester. Das liegt daran, dass sie sich schlicht weniger für Politik interessieren.
Nach der Herbstsession ist vor den Wahlen – Aline Trede (GP/BE) verabschiedet sich von Albert Rösti (SVP/BE). Beide treten am 20. Oktober zur Wiederwahl an. Wie auch 4'643 Personen weitere Personen.
Die Zahl der unter 30-Jährigen, die in den Nationalrat wollen, nimmt zu. So steigt beispielsweise die 29-jährige Ex-Juso-Präsidentin Tamara Funiciello im Kanton Bern ins Rennen.
Auf der anderen Seite wollen auch viele Senioren in den Nationalrat. SVPler Maximilian Reimann etwa kandidiert im Kanton Aargau auf der Liste des «Team65+». Er ist 77 Jahre alt.
Apropos Aargau: Bekannte Vertreter wie Corina Eichenberger (FDP), Sylvia Flückiger-Bäni (SVP) und Ulrich Giezendanner (SVP) treten nicht mehr an. Erneut ins Rennen steigen dagegen Schwergewichte wie Ruth Humbel (CVP, im Bild an einem Orientierungslauf) oder Cédric Wermuth (SP). Letzterer will zudem ins Stöckli.
Zurück in den Nationalrat will auch SVPler Christoph Mörgeli. Der Zürcher startet von Listenplatz 15 aus. Auf dem Bild lässt er sich schminken beim Fototermin der Kantonalpartei im zürcherischen Wetzikon.
Bleiben wir noch kurz im Kanton Zürich: 178'090 Stimmen – noch nie hat ein Schweizer Parlamentarier so viele Stimmen bekommen wie Nationalrat und «Weltwoche»-Chefredaktor Roger Köppel 2015. Nun startet er von Listenplatz 1 aus – und versucht parallel den Sturm aufs Stöckli.
Wird sie die erste Frau überhaupt, die für Appenzell Innerhoden in den Nationalrat einzieht? Die CVP-Regierungsrätin Antonia Fässler will den Sitz von Parteigspänli Daniel Fässler erben.
Dazu ein Kuriosum: Fässlers Sitz im Nationalrat ist derzeit verwaist. Denn schon im Frühling hat ihn die Landsgemeinde zum Nachfolger von Ständerat Ivo Bischofberger gewählt wurde. Auf dem Bild zu sehen ist die Jacke eines Ratsweibels.
Fiese Arithmetik, denken sich wohl die Berner. Der Kanton verliert zum zweiten Mal in Folge einen Sitz. Der BDPler Hans Grunder (r.) tritt nicht mehr an – was für die ohnehin angeschlagenen BDP bitter ist –, genausowenig wie Adrian Amstutz von der SVP.
Berns Übel ist Genfs Glück – durch Bevölkerungswachstum bekommt der Kanton einen Sitz mehr. Davon profitieren möchte etwa Eric Stauffer, Enfant Terrible der Genfer Politik. Er kandidiert auf einer Unterliste der BDP, was die Partei allerdings gar nicht erquickt.
Apropos BDP: Deren Chef Martin Landolt tritt im Kanton Glarus zur Wiederwahl und zum Verteidigungskampf um den einzigen Sitz an. Seine Herausfordererin ist Priska Grünenfelder von der SP, eine Lehrerin ohne politische Erfahrung. Schafft Landolt die Wiederwahl nicht, wäre das ein schlechtes Zeichen für die BDP.
Spannend wird die Wahl in Graubünden: Auf zwei verschiedenen SVP-Listen treten dort Magdalena Martullo-Blocher und Heinz Brand an. Die Frage ist: Kann die Partei beide Sitze halten, oder luchst ihnen eine andere Partei einen ab?
Bei St. Gallen denkt man sofort an – genau, Toni Brunner. Doch er ist vor einem Jahr zurückgetreten. Die Folge? Die SVP könnte ihren fünften Sitz an die Grünen verlieren.
Die höchste Schweizerin ist dieses Jahr mit Nationalratspräsidentin Marina Carobbio (SP) eine Tessinerin. Sie tritt mit einer Doppelkandidatur für National- und Ständerat an. Und: Historisch ist im Südkanton die Listenverbindung von FDP und CVP.
1'873 Frauen und 2'772 Männer bewerben sich um einen der 200 Sitze im Nationalrat – sie alle wollen künftig unter der Bundeshauskuppel mitreden.
Das sind so viele Kandidaten wie noch nie. Und auch so viele Frauen wie nie, wie das Bundesamt für Statistik (BFS) ausgerechnet hat.
Wichtig für die Mobilisierung dürfte der Frauenstreik im Juni gewesen sein. Er schwappte von der Strasse bis ins Bundeshaus, wie das Bild der Nationalrätinnen Sibel Arslan (GP/BS), Marina Carobbio (SP/TI) und Isabelle Moret (FDP/VD) mit CVP-Bundesrätin Viola Amherd auf dem Bundesplatz zeigt.
Dank der Wut vieler Wählerinnen und Wähler könnte dieses Jahr auch die Wahlbeteiligung steigen – und laut Politologen die 50-Prozent-Marke knacken.
Zum Schluss nochmals etwas Mathe: Die Nationalratssitze werden gemäss Bevölkerungszahl auf die Kantone verteilt. Am meisten Sitze hat der Kanton Zürich (35), je nur einen Sitz haben die beiden Appenzell, Ob- und Nidwalden, Glarus sowie Uri.
Die spannenden Kämpfe bei den eidgenössischen Wahlen
Nach der Herbstsession ist vor den Wahlen – Aline Trede (GP/BE) verabschiedet sich von Albert Rösti (SVP/BE). Beide treten am 20. Oktober zur Wiederwahl an. Wie auch 4'643 Personen weitere Personen.
Die Zahl der unter 30-Jährigen, die in den Nationalrat wollen, nimmt zu. So steigt beispielsweise die 29-jährige Ex-Juso-Präsidentin Tamara Funiciello im Kanton Bern ins Rennen.
Auf der anderen Seite wollen auch viele Senioren in den Nationalrat. SVPler Maximilian Reimann etwa kandidiert im Kanton Aargau auf der Liste des «Team65+». Er ist 77 Jahre alt.
Apropos Aargau: Bekannte Vertreter wie Corina Eichenberger (FDP), Sylvia Flückiger-Bäni (SVP) und Ulrich Giezendanner (SVP) treten nicht mehr an. Erneut ins Rennen steigen dagegen Schwergewichte wie Ruth Humbel (CVP, im Bild an einem Orientierungslauf) oder Cédric Wermuth (SP). Letzterer will zudem ins Stöckli.
Zurück in den Nationalrat will auch SVPler Christoph Mörgeli. Der Zürcher startet von Listenplatz 15 aus. Auf dem Bild lässt er sich schminken beim Fototermin der Kantonalpartei im zürcherischen Wetzikon.
Bleiben wir noch kurz im Kanton Zürich: 178'090 Stimmen – noch nie hat ein Schweizer Parlamentarier so viele Stimmen bekommen wie Nationalrat und «Weltwoche»-Chefredaktor Roger Köppel 2015. Nun startet er von Listenplatz 1 aus – und versucht parallel den Sturm aufs Stöckli.
Wird sie die erste Frau überhaupt, die für Appenzell Innerhoden in den Nationalrat einzieht? Die CVP-Regierungsrätin Antonia Fässler will den Sitz von Parteigspänli Daniel Fässler erben.
Dazu ein Kuriosum: Fässlers Sitz im Nationalrat ist derzeit verwaist. Denn schon im Frühling hat ihn die Landsgemeinde zum Nachfolger von Ständerat Ivo Bischofberger gewählt wurde. Auf dem Bild zu sehen ist die Jacke eines Ratsweibels.
Fiese Arithmetik, denken sich wohl die Berner. Der Kanton verliert zum zweiten Mal in Folge einen Sitz. Der BDPler Hans Grunder (r.) tritt nicht mehr an – was für die ohnehin angeschlagenen BDP bitter ist –, genausowenig wie Adrian Amstutz von der SVP.
Berns Übel ist Genfs Glück – durch Bevölkerungswachstum bekommt der Kanton einen Sitz mehr. Davon profitieren möchte etwa Eric Stauffer, Enfant Terrible der Genfer Politik. Er kandidiert auf einer Unterliste der BDP, was die Partei allerdings gar nicht erquickt.
Apropos BDP: Deren Chef Martin Landolt tritt im Kanton Glarus zur Wiederwahl und zum Verteidigungskampf um den einzigen Sitz an. Seine Herausfordererin ist Priska Grünenfelder von der SP, eine Lehrerin ohne politische Erfahrung. Schafft Landolt die Wiederwahl nicht, wäre das ein schlechtes Zeichen für die BDP.
Spannend wird die Wahl in Graubünden: Auf zwei verschiedenen SVP-Listen treten dort Magdalena Martullo-Blocher und Heinz Brand an. Die Frage ist: Kann die Partei beide Sitze halten, oder luchst ihnen eine andere Partei einen ab?
Bei St. Gallen denkt man sofort an – genau, Toni Brunner. Doch er ist vor einem Jahr zurückgetreten. Die Folge? Die SVP könnte ihren fünften Sitz an die Grünen verlieren.
Die höchste Schweizerin ist dieses Jahr mit Nationalratspräsidentin Marina Carobbio (SP) eine Tessinerin. Sie tritt mit einer Doppelkandidatur für National- und Ständerat an. Und: Historisch ist im Südkanton die Listenverbindung von FDP und CVP.
1'873 Frauen und 2'772 Männer bewerben sich um einen der 200 Sitze im Nationalrat – sie alle wollen künftig unter der Bundeshauskuppel mitreden.
Das sind so viele Kandidaten wie noch nie. Und auch so viele Frauen wie nie, wie das Bundesamt für Statistik (BFS) ausgerechnet hat.
Wichtig für die Mobilisierung dürfte der Frauenstreik im Juni gewesen sein. Er schwappte von der Strasse bis ins Bundeshaus, wie das Bild der Nationalrätinnen Sibel Arslan (GP/BS), Marina Carobbio (SP/TI) und Isabelle Moret (FDP/VD) mit CVP-Bundesrätin Viola Amherd auf dem Bundesplatz zeigt.
Dank der Wut vieler Wählerinnen und Wähler könnte dieses Jahr auch die Wahlbeteiligung steigen – und laut Politologen die 50-Prozent-Marke knacken.
Zum Schluss nochmals etwas Mathe: Die Nationalratssitze werden gemäss Bevölkerungszahl auf die Kantone verteilt. Am meisten Sitze hat der Kanton Zürich (35), je nur einen Sitz haben die beiden Appenzell, Ob- und Nidwalden, Glarus sowie Uri.
Könnte sich das gerade ändern? Die «Fridays for Future»-Bewegung treibt in diesem Jahr viele junge Leute auf die Strasse.
Das ist richtig, und ich sehe das als die spannendste Frage im Hinblick auf die Wahlbeteiligung am kommenden Sonntag: Wird die Klimabewegung die jüngeren Wähler tatsächlich vermehrt an die Urne bringen? Sollte das eintreffen, dann wäre ein langjähriger Trend gebrochen, wonach sich junge Leute weniger für Politik interessieren. Und sollte die Wahlbeteiligung steigen, dann ist das höchstwahrscheinlich tatsächlich auf diese Bewegung zurückzuführen. Aber das bleibt abzuwarten.
Eine neue Untersuchung kommt zum Schluss, dass über ein Drittel der Bevölkerung keine klassischen Medien mehr konsumiert. Die Autoren betrachten das als problematisch für die Demokratie. Einverstanden?
Ja, absolut. Weil wenn man abstimmen oder wählen will, muss man informiert sein und wissen, was die Pro- und die Kontra-Argumente sind. Und wenn man die Nachrichten nicht mehr zur Kenntnis nimmt, dann weiss man das nicht. Das ist natürlich problematisch.
Schaffhausen kennt als einziger Kanton eine Stimm- und Wahlpflicht. Wäre das vielleicht ein Mittel, um die Leute dazu zu bringen, sich mit politischen Themen auseinanderzusetzen?
Dank dieser Pflicht ist die Stimm- und Wahlbeteiligung in Schaffhausen tatsächlich höher als in den anderen Kantonen. Es ist also sicher ein probates Mittel, um die Leute an die Urne zu bringen. Die Frage ist aber, ob das überhaupt das Ziel sein sollte. In Schaffhausen ist nämlich auch der Anteil ungültiger oder leeren Stimmzettel höher. Das zeigt, dass es vielleicht nicht die beste Idee ist, die Leute dazu zwingen zu wollen, ihre Meinung zu äussern. Es ist, so denke ich, auch ein legitimes Verhalten, zu sagen: ‹Ich interessiere mich nicht für Politik und überlasse das den anderen.›
Wie stehen Sie zu klassischen Nichtwähler-Aussagen wie ‹Die da oben in Bern machen sowieso, was sie wollen›?
Damit habe ich etwas Mühe. Beim Abstimmen ist das sicherlich kein Argument, weil dort hat die Bevölkerung ganz klar die Möglichkeit, etwas anderes zu entscheiden, als die Politiker wollten – wenn das Volk ein Gesetz ablehnt, zum Beispiel.
Und bei Wahlen ist es so, dass es je länger, desto mehr Politiker gibt, die versprechen, sich für die Anliegen ihrer Wähler einzusetzen. Wenn man das nicht als Argument sieht, wählen zu gehen, hat man vielleicht noch nicht die richtige Partei oder den richtigen Politiker gefunden. Aber als Pauschalurteil finde ich diese Haltung wenig plausibel.
Noch ein Ausblick auf die Wahlen vom Sonntag: Wagen Sie eine Prognose, ob die Stimmbeteiligung höher ausfallen wird?
Da würde ich lieber abwarten. Prognosen sind schliesslich immer schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen.
Zur Person: Daniel Kübler ist Professor für Politikwissenschaften an der Universität Zürich und Direktionsmitglied beim Zentrum für Demokratie Aarau.
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