Interview mit Politologin Alle reden immer vom Nationalrat – wo bleibt der Ständerat?

Von Anna Kappeler

3.10.2019

Ein Bild aus vergangener Zeit: Die Mitglieder des Ständerats bei den Schlussabstimmungen zum Abschluss der Herbstsession und der Legislatur 1999.
Ein Bild aus vergangener Zeit: Die Mitglieder des Ständerats bei den Schlussabstimmungen zum Abschluss der Herbstsession und der Legislatur 1999.
Bild: Keystone

Linksrutsch. Klimawahl. Frauenwahl. So lauten aktuelle Prognosen. Allerdings: Diese gelten nur für den Nationalrat. Wieso das Stöckli anders tickt, sagt Politologin Cloé Jans vom Forschungsinstitut gfs.bern.

Frau Jans, ist das Stöckli weniger spannend als der Nationalrat?

Die Ausgangslage im Stöckli ist anders. Der Nationalrat ist mit seiner Proporzwahl zugänglicher. Dort werden Partei-Prozente in Sitze umgerechnet – die grosse Kammer ist der Gradmesser, wie stark eine Partei in der Bevölkerung verankert ist. Ständeratswahlen dagegen sind Majorzwahlen. Und somit Personenwahlen. Ständeratswahlen sind Mini-Bundesratswahlen – ohne den Exekutivanspruch.

Das ideale Kandidaten-Profil für den Ständerat?

Nur mehrheitsfähige Kandidatinnen und Kandidaten, die über das eigene Lager hinaus mobilisieren, schaffen den Sprung ins Stöckli. Im Ständerat ist deshalb die CVP als klassische Mittepartei am stärksten. Die Polparteien stehen verglichen mit dem Nationalrat viel schlechter da: Die SVP-Fraktion ist zwar im Nationalrat am stärksten, hat im Stöckli aber nur gerade sechs Sitze.

Dieses Mal gibt es einen Exodus im Stöckli: 19 von 46 Sitze werden frei – können die Wahlen 2019 die Zusammensetzung im Stöckli verändern?

Kaum, da sich das Stöckli gerade durch Konstanz auszeichnet. Es wird die «chambre de réflexion» bleiben. Im internationalen Vergleich ändern sich die Machtverhältnisse in der Schweiz ja allgemein kaum. Und: Der Ständerat ändert sich jeweils deutlich weniger als der Nationalrat.

Beim Stöckli sorgt alleine schon das Wahlsystem für eine «natürliche Selektion», sagt Politologin Cloé Jans vom Forschungsinstitut gfs.bern.
Beim Stöckli sorgt alleine schon das Wahlsystem für eine «natürliche Selektion», sagt Politologin Cloé Jans vom Forschungsinstitut gfs.bern.
Bild: gfs.bern

Prognosen sagen dem Nationalrat einen Linksrutsch voraus, wie sieht es beim Ständerat aus?

Der Ständerat wird – von der Parteienstärke unabhängig – seine reflektierende Rolle behalten, Ruhe, Gelassenheit und ein langfristigeres Denken inklusive.

2019 gilt als Jahr der Klimadebatte. Im Stöckli jedoch haben die Grünen nur gerade einen Sitz. Können sie die Sitze – etwa durch die Kandidatur von Grünenchefin Regula Rytz – steigern?

Das ist schwierig vorherzusagen. Natürlich ist es eine Klimawahl, aber jemand wie Rytz polarisiert stark. Und wer zu stark polarisiert, verliert. Ständeräte sind oft gemässigt. Es ist kein Zufall, dass linke Ständeräte wie Daniel Jositsch (ZH) oder Pascale Bruderer (AG) zum liberalen Flügel der Partei gehören.

Ständerat und SP-Chef Christian Levrat vertritt eine dezidiert linke Position.

Ja, aber die Romands ticken anders. Eine Ausnahme allerdings gibt es bei den SP-Ständeräten tatsächlich: Paul Rechsteiner. Dass er den konservativen Kanton St. Gallen vertreten kann, ist eine kleine Sensation. Geschafft hat er das, weil er sich als erfolgreiches Duo zusammen mit Karin Keller-Sutter (FDP), der jetzigen Justizministerin, für seinen Heimatkanton einsetzte. Er positioniert sich geschickt. Auffällig ist ja auch, dass sich in Zürich mit Daniel Jositsch (SP) und Ruedi Noser (FDP) ebenfalls ein erfolgreiches und überparteilich agierendes Duo präsentiert. Ein Ständerat steht für seinen Kanton – auch wenn in Zeiten von Trump auch in der Schweiz stärker personalisiert wird.

Die Ständeräte Pascale Bruderer (SP/AG) und Hans Stöckli (SP/BE) verabschieden sich zum Ende der Legislatur.
Die Ständeräte Pascale Bruderer (SP/AG) und Hans Stöckli (SP/BE) verabschieden sich zum Ende der Legislatur.
Bild: Keystone

Im Nationalrat dürften die Frauen bei den Wahlen zulegen. Im Ständerat hingegen ist die Frauenquote auf dem tiefsten Stand seit 1991. Wird sie mit den Wahlen 2019 weiter sinken?

Es gibt ausreichend Frauenkandidaturen für den Ständerat, damit die aktuelle Anzahl gehalten werden kann. Aber ja: Es kann maximal auf ein Halten gehofft werden.

Kein Wunder, wenn wie im Aargau etwa Cédric Wermuth Yvonne Feri vorgezogen wird …

Um nominiert zu werden, braucht es einen grossen Rückhalt in der Basis. Offenbar war dieser bei Wermuth grösser als bei Feri. Das zeigt: Ohne breite Abstützung keine Nomination.



Da der 40-jährige Raphaël Comte (FDP) und die 42-jährige Pascale Bruderer (SP) nicht mehr antreten, schnellt das Durchschnittsalter im Ständerat massiv nach oben. Warum hat es kaum Junge im Stöckli?

Für das Stöckli ist eine gewisse Bekanntheit und ein Rucksack mit Erfahrungen unabdingbar. Eine Majorzwahl ist immer schwieriger zu gewinnen als eine Proporzwahl. Es gibt eine natürliche Selektion. Dazu kommt: Die Durchschnittswählerin ist knapp 60 Jahre alt – meist wählt man Leute, zu denen man einen Bezug hat. Diese sind häufig im gleichen Alter wie man selbst. Das heisst: Will man den Ständerat verjüngen, müsste man jüngere Leute an die Urne bringen.

Überspitzt gesagt: Der Ständerat zimmerte die Steuer-AHV-Vorlage zusammen und rettete damit diese Legislatur vor einem Schiffbruch in zwei wichtigen Dossiers. Ist der Ständerat die wichtigere Kammer?

Nein, das zu sagen, wäre ein demokratietheoretischer Frevel. Es braucht beide Kammern. Doch ein einzelner Ständerat hat mehr Gewicht als ein einzelner Nationalrat, allein deswegen, weil er einer von 46 statt einer von 200 ist.



Welche Personalie wird die grösste Überraschung bei den Ständeratswahlen?

Das kann ich nicht sagen.

Es scheint typisch Schweiz zu sein, dass grosse Überraschungen die Ausnahme bleiben ...

Wahlen sind weniger emotional als Abstimmungen. Ich beobachte, dass es vielen Leuten schwerfällt, sich mit Herzblut in die Wahlen zu stürzen. Abstimmungen sind konkreter – da kann ich mich engagieren und enervieren, da gib es «Ja» oder «Nein», nichts dazwischen. Das Potenzial zur emotionalen Zuspitzung fehlt bei Wahlen. Zudem ist das Wahlsystem kompliziert – das hemmt. Wahlen sind einfach weniger sexy als Abstimmungen.


Infobox: Majorz- versus Proporzwahl

Majorzwahl: In den meisten Kantonen gilt bei den Ständeratswahlen das Majorzsystem. Gewählt ist, wer entweder im 1. Wahlgang  das absolute Mehr erreicht, also die Hälfte der Stimmen plus eine. Oder aber im 2. Wahlgang am meisten Stimmen macht.

Proporzwahl: Bei den Nationalratswahlen gilt in den meisten Kantonen das Proporz- oder Verhältnis-System. Hier werden nicht Kandidierende direkt gewählt, sondern Listen (meist Parteien). Gemäss den Wähleranteilen werden nach mehreren Schritten dann die zur Verfügung stehenden 200 Sitze des Nationalrates verteilt.


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