Unbezahlbar und knapp Die Wohnsituation in der Schweiz eskaliert

jke

5.9.2024

Gigantische Schlange: Wohnungssuchende brauchen bei der Besichtigung einer Musterwohnung der Wohnungssiedlung Kronenwiese im Zürcher Quartier Unterstrass viel Geduld.
Gigantische Schlange: Wohnungssuchende brauchen bei der Besichtigung einer Musterwohnung der Wohnungssiedlung Kronenwiese im Zürcher Quartier Unterstrass viel Geduld.
Keystone

Die Wohnungsknappheit in der Schweiz wird immer bedrohlicher. Wie konnte es so weit kommen?

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Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Die Zahl der bewilligten Baugesuche ist auf ein Rekordtief gesunken: In den letzten 20 Jahren wurden noch nie so wenige Wohnungen genehmigt.
  • Neue Wohnungen bieten im Schnitt weniger Zimmer als früher, was den Mangel zusätzlich verschärft.
  • Die Mieten für neu ausgeschriebene Wohnungen sind so stark gestiegen wie seit über 30 Jahren nicht mehr.
  • Der Bund und die Kantone machen sich gegenseitig verantwortlich für die Misere.

Der Mietwohnungsmarkt in der Schweiz steht unter Druck – und die Lage wird immer dramatischer. So könnte man den neuesten Immobilienbericht der Raiffeisen Bank zusammenfassen, den «Watson» analysiert hat. Der Chefökonom Fredy Hasenmaile sieht einen Teil der Schuld bei der Bundesverwaltung, also auch beim Bundesrat.

Ein Blick auf die Fakten: In der Baubranche werden seit Jahren immer weniger Baugesuche gestellt und noch weniger genehmigt. Niemand weiss genau, warum. Und während die Ursachen noch diskutiert werden, sind die Bewilligungen im vergangenen Jahr auf ein historisches Tief gesunken.

Weniger als 1 Prozent leere Wohnungen

Im Jahr 2022 wurden 33'532 Wohnungen bewilligt, der schlechteste Wert seit 20 Jahren – und das, obwohl Wohnraum in der Schweiz knapp ist, besonders in den städtischen Gebieten. Die Bevölkerung wächst weiterhin um etwa 80'000 Personen pro Jahr, doch es wird kaum neuer Wohnraum geschaffen.

Und was gebaut wird, ist oft kleiner als früher: Die Anzahl der Zimmer pro Wohnung sinkt, heute sind es meist nur noch drei statt der üblichen vier. Das heisst, nicht nur der Wohnungsmangel, sondern auch der Zimmermangel wird immer grösser.

Der Engpass ist überall spürbar. Wer auf Internetportalen nach einer Wohnung sucht, findet deutlich weniger Angebote als noch vor einigen Jahren. Diesen Monat wird das Bundesamt für Statistik erneut die Leerwohnungsziffer veröffentlichen. Laut Raiffeisen könnte sie erstmals seit über einem Jahrzehnt unter 1 Prozent fallen.

Angebotsmieten «laufen aus dem Ruder»

Besonders spürbar wird die Knappheit durch den starken Anstieg der Angebotsmieten – also der Mieten von neu ausgeschriebenen Wohnungen. Im zweiten Quartal 2022 lagen diese 6,4 Prozent höher als im Vorjahresquartal, was den stärksten Anstieg seit 1992 markiert.

Stärkster Anstieg seit 1992: 2022 lagen die Angebotsmieten schweizweit 6,4 Prozent höher als im Vorjahresquartal.
Stärkster Anstieg seit 1992: 2022 lagen die Angebotsmieten schweizweit 6,4 Prozent höher als im Vorjahresquartal.
Sebastian Gollnow/dpa

Die Raiffeisen-Ökonom*innen sprechen davon, dass die Angebotsmieten «aus dem Ruder laufen». Dieser extreme Anstieg betrifft zunächst vor allem diejenigen, die eine neue Wohnung suchen.

Bestehende Mietverhältnisse sind davon nicht direkt betroffen, da die Bestandsmieten an den hypothekarischen Referenzzinssatz gekoppelt sind, der zuletzt stabil geblieben ist und laut Prognosen von Raiffeisen in den nächsten Monaten sogar noch sinken könnte. Aber wie Raiffeisen betont: «Hohe Angebotsmieten treffen früher oder später fast alle Mieter.»

Fahrlässige Umsetzung des Raumplanungsgesetzes

Die Nachfrage nach Wohnraum ist hoch, das Angebot hinkt jedoch hinterher – es wird nicht nur nicht ausreichend gebaut, sondern es gibt insgesamt immer weniger neue Wohnungen. Dabei ist Wohnen laut Bundesrat ein «Grundbedürfnis», wie es im «Aktionsplan Wohnungsknappheit» heisst.

Raiffeisen-Chefökonom Hasenmaile betont auf Anfrage von «Watson», das Problem sei komplex und habe sich über viele Jahre hinweg verschärft, weswegen es nicht schnell zu lösen sei. Er begrüsst zwar, dass der Bund nicht unüberlegt handelt, kritisiert jedoch den Mangel an Führung: «Ich vermisse eine klarere Handschrift des Bundes.»

Der Bund habe laut Hasenmaile zwar den richtigen Ansatz in der Raumplanung gewählt, aber die Umsetzung sei wenig vorausschauend oder gar fahrlässig angegangen worden. Das Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) habe erst kürzlich eingeräumt, dass die Verdichtung länger dauere als erwartet. Hasenmaile kommentiert: «Das hätte man wissen oder vorbereiten können.»

Bund schiebt Verantwortung den Kantonen zu

Die Entscheidung zur Verdichtung wurde vom Volk 2013 befürwortet, da die vorherige Zersiedlung wertvolles Kulturland verschlungen hatte. Man wollte zum Beispiel mehr Wohnungen auf bereits überbautes Land stellen.

Doch das neue Raumplanungsgesetz umzusetzen, gestaltet sich schwieriger als erwartet: In Städten muss oft Altes weichen, bevor Neues gebaut werden kann. Das ARE sieht die Verantwortung jedoch anders.

Die Umsetzung liege bei den Kantonen, die mit Anpassungen ihrer Nutzungspläne teils länger gebraucht hätten als geplant, stellt ein Sprecher auf Anfrage von «Watson» klar. «Die Gründe dafür sind vielfältig und haben viel mit den lokalen Bedingungen und Personalressourcen in den Gemeinden und Kantonen zu tun.»

Der Bund als Berater

Der Bund habe nur eine beratende Rolle. In diesem Rahmen fordere das ARE zwar von den Kantonen und Gemeinden eine konsequente Umsetzung ein. Es dürfe aber aufgrund der verfassungsrechtlichen Aufgabenteilung in der Raumplanung nicht in die politischen Prozesse der Gemeinden und Kantone eingreifen. 

«Die These, dass der Bund mehr hätte tun müssen, um die Verdichtung schneller umzusetzen, ist also falsch.» Der Kurs in Richtung dichteres Bauen gehe durchaus voran.


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