Bundesrätin in Kritik «Neue Asylregel ist äusserst problematisch und bedenklich»

Von Jennifer Furer

2.4.2020

Bundesrätin Karin Keller-Sutter steht in Kritik. Ihr Entscheid, Asylverfahren ohne Rechtsbeistand zu genehmigen, sei bedenklich, monieren Rechtsanwälte.
Bundesrätin Karin Keller-Sutter steht in Kritik. Ihr Entscheid, Asylverfahren ohne Rechtsbeistand zu genehmigen, sei bedenklich, monieren Rechtsanwälte.

Anhörungen von Asylsuchenden können ohne Rechtsvertretung durchgeführt werden. Die temporäre Massnahme des Bundesrates stösst Juristen sauer auf. Einem SVP-Nationalrat wäre es hingegen egal, würde das Asylrecht vorübergehend ausgehebelt.

Asylverfahren werden weiterhin durchgeführt. Das hat Justizministerin Karin Keller-Sutter (FDP) am Mittwoch an einer Medienkonferenz verkündet. Damit kommt der Bundesrat der Forderung nach einer Sistierung des Asylverfahrens nicht nach. Unter anderem Amnesty International hat dies verlangt.

Die Menschenrechtsorganisation forderte die Sistierung namentlich für Anhörungen, die eine Anreise mit dem öffentlichen Verkehr erfordern und für Verfügungen und Entscheide, welche zu einer Belastung des Gesundheitssystems führen könnten.

Da durch jetzt durchgeführte Asylverfahren die Verteilung von Asylsuchenden gebremst werde, könnte es zu einer Überbelegung kantonaler Strukturen kommen. Denn die meisten Asylsuchenden mit einem negativen Entscheid könnten ohnehin nicht abgeschoben werden – und müssten für eine unbestimmte Zeit in Administrativhaft.

Der Bundesrat sieht die Situation aber anders. Er geht davon aus, dass eine Sistierung der Verfahren zu Kapazitätsproblemen primär in den Bundesasylzentren führen würde, so Bundesrätin Keller-Sutter an der Medienkonferenz.

Zweifel an Rechtsstaatlichkeit

Massnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise in Asylunterkünften und -zentren seien dann nicht mehr umsetzbar. Zudem wolle der Bundesrat Asylverfahren weiterführen, um die Rechtsstaatlichkeit zu gewähren, die auch in Krisenzeiten unabdingbar sei.

Die SP-Nationalrätin Samira Marti zweifelt hier jedoch gerade am Charakter der Rechtsstaatlichkeit. Sie stösst sich besonders daran, dass Befragungen von Asylsuchenden nun auch ohne Rechtsvertretung durchgeführt werden können.

Die 25-jährige Samira Marti sitzt seit 2018 im Nationalrat.
Die 25-jährige Samira Marti sitzt seit 2018 im Nationalrat.
Bild: Keystone

Marti begrüsst zwar, dass im Gegenzug die Frist für das Einreichen von Beschwerden gegen Asylentscheide in beschleunigten Verfahren von sieben auf dreissig Arbeitstage erstreckt wurde, bemängelt aber: «Es zeigt, dass Asylverfahren momentan nicht rechtsstaatlich sauber durchgeführt werden können. Es ist ein Kompromissvorschlag zuungunsten der Asylsuchenden», so Marti.

«Das geht überhaupt nicht», sagt die SP-Politikerin. Sie stört, dass diese «krasse Verletzung der Rechte von Asylsuchenden» ohne grossen Aufschrei vonstattengehe.

Die Verantwortung für eine faire Anhörung der Asylsuchenden werde nun auf eine einzelne Person – namentlich die Rechtsvertretung – abgewälzt. «Die geflüchteten Menschen sind zudem von der Verfügbarkeit ihres Anwaltes abhängig», sagt Marti.

Kritik von Juristen

Marti sieht keinen Sinn darin, derzeit überhaupt negative Asylentscheide auszusprechen, weil Ausschaffungen derzeit ohnehin grösstenteils nicht möglich seien. Zudem: «Mit jedem Entscheid werden nur weitere und unnötige Fristen in Gang gesetzt.»

Das Problem spitze sich dann weniger in Bundesasylzentren, ist sich Marti sicher. Mehr leiden würden die Kantone. Denn auch die Plätze und Personal in den Anstalten der Administrativhaft beispielsweise seien begrenzt.

Dorthin gehörten Asylsuchende ohnehin nicht, so Marti «Asylsuchende haben nichts verbrochen, sondern warten lediglich auf eine Ausschaffung und werden derzeit dennoch für eine ungewisse Zeit in gefängnisähnliche Unterbringungen gesteckt», sagt die SP-Politikerin.

Unter anderem Basel-Stadt und Basel-Land hätten reagiert und die geflüchteten Menschen aus der Administrativhaft entlassen. «Alle Kantone müssten jetzt nachziehen», so Marti.



In die gleiche Kerbe schlägt der Zürcher Rechtsanwalt Peter Frei, dessen Spezialgebiet das Asylrecht ist. «Mir leuchtet nicht ein, wie die mögliche Abwesenheit eines Rechtsvertreters mit einer Verlängerung der Beschwerdefrist kompensiert werden kann. Das sind zwei ganz unterschiedliche Sachen.»

Was derzeit geschehe, sei eine Einschränkung des Asylrechts, die zugleich einen Eingriff ins Recht des Asylsuchenden darstelle. «Dabei wurde die gesetzliche Pflicht eines Rechtsbeistandes zum Schutz der Asylsuchenden verabschiedet.»

Eine Anhörung ohne gesetzlichen Vertreter laufe anders ab, als wenn ein Anwalt anwesend ist. «Ich habe schon einige Protokolle gelesen, in denen ersichtlich wurde, dass die Atmosphäre angespannter und der Druck auf die geflüchteten Menschen höher war», so Frei. Ohne Rechtsbeistand sei es unmöglich, diesen Druck abzufedern. «Von den Asylsuchenden wird erwartet, dass sie die Hosen herunterlassen.» 

Keine Kontrollinstanz

Kritisch sieht Frei auch, dass sich Asylsuchende kaum gegen die vom Bundesrat verabschiedete Notverordnung wehren können. «Man kann schon Einzelfälle vors Bundesverwaltungsgericht ziehen. Aber dieses kann den Entscheid des Bundesrates wohl kaum umstossen.»

Es fehle derzeit an einer Kontrollinstanz, welche die Massnahmen des Bundesrates kritisch beleuchtet, moniert er. Diese sei bestenfalls nach jahrelangem Streit auf internationaler Ebene durch den Gerichtshof für Menschenrechte gegeben.

«Ein krasser Vergleich dieser Situation: Wenn der Bundesrat die Folter erlauben würde, könnte er dies jetzt vorübergehend durchsetzen», meint Frei. «Das ist fatal.»

Rechtsanwalt Nicolas von Wartburg, der ebenfalls Asylrecht zu seinen Spezialgebieten zählt, stimmt seinem Berufskollegen zu. «Der Umstand, dass die Rechtsvertreter bei den Anhörungen nicht mehr zwingend anwesend sein müssen, ist aus meiner Sicht äusserst problematisch.»

Resultat: Falsche Entscheide

Auch, weil bei der Erhebung einer Beschwerde der persönliche Austausch zwischen Rechtsvertretung und asylsuchender Person wichtig sei. Das sei aber unter Einhaltung der vom Bund erlassenen Richtlinien nicht möglich. «Aus diesem Grund ist die Erhebung einer wirksamen Beschwerde auch innert einer Frist von 30 Tagen nur schwer möglich», so von Wartburg.

Zudem: Bereits vor der Corona-Krise seien die Rechtsvertreter der Asylsuchenden nicht immer in der Lage gewesen, sämtliche aussichtsreichen Beschwerden zu erheben. Das zeige die bisherige Rechtssprechung des Bundesverwaltungsgerichts.

Aufgrund der Umstände durch das Coronavirus hätten die Asylsuchenden zudem ohnehin Mühe, einen Rechtsvertreter zu finden, der ihren Entscheid anficht.



Es sei zu befürchten, dass viele – vor allem auch falsche – negative Entscheide des Staatssekretariats für Migration nun rechtskräftig würden. Von Wartburg sagt: «Aus meiner Sicht ist die Sistierung der Asylverfahren zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit zwingend notwendig.»

Auch Gerichte unter anderem im Kanton Zürich hätten zum Schutz der Gesundheit aller Beteiligten alle nicht dringlichen Verfahren mit mündlichen Verhandlungen bis auf Weiteres sistiert. «Weshalb dies im Asylverfahren nicht möglich sein soll, zumal die Fallzahlen aktuell rückläufig sind, erschliesst sich mir nicht.»

Ganz anders beurteilt SVP-Nationalrat und -Asylchef Andreas Glarner die Situation. «In diesen aussergewöhnlichen Umständen ist die Massnahme des Bundesrates völlig richtig.» Es sei unangebracht, jetzt Lärm um fehlende Rechtsvertretungen zu machen.

«Es läuft in vielen Bereichen unseres Lebens gerade nicht so, wie sich das die Betroffenen wünschen», so Glarner. «Die Asylsuchenden sollten froh sein, bei uns Unterschlupf gefunden zu haben.»

Andreas Glarner kümmert sich bei der SVP um Asylfragen und ist Präsident der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats.
Andreas Glarner kümmert sich bei der SVP um Asylfragen und ist Präsident der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats.
Bild: Keystone

Das Schweizer Asylrecht sei ohnehin absurd. «Da spielt es auch keine Rolle, wenn wir es nun infolge Notstand temporär ganz aushebeln müssen», so Glarner. Dem SVP-Politiker wäre es sowieso recht, wenn gleich alle Asylsuchenden, die aus wirtschaftlichen Gründen in der Schweiz sind, ausgeschafft würden – also laut Glarner viele Wirtschaftsflüchtlinge aus Eritrea.

Glarner plädiert für ein neues Triage-System: «All jene Flüchtlinge, die mit Handy, aber ohne Papiere und ohne Erinnerungen an ihren Geburtstag in die Schweiz kommen, sollten in einem Schnellverfahren schnurstracks wieder ausgeschafft werden.»

Gemässigt zeigt sich Glarner bei Menschen, die ihre Pässe noch besitzen und vor dem Krieg oder vor Verfolgung geflüchtet sind. «Diese können den Platz, den wir in der Schweiz für Asylsuchende zur Verfügung stellen, gerne beanspruchen.»

SEM: Rechtsschutz gewährleistet

Lukas Rieder, Sprecher des Staatsekretariats für Migration SEM, wehrt sich gegen die nun aufflammenden Vorwürfe an der derzeitigen Asylpraxis. «Der Rechtsschutz in den Zentren des Bundes funktioniert weiterhin.»

Mit den längeren Fristen werde sichergestellt, dass der Zugang zu Beratung und rechtlicher Vertretung gewährleistet sei – auch dann, wenn es aufgrund der aktuellen Situation vermehrt zu personellen Engpässen komme.

«Oberste Priorität bleibt, dass der unentgeltliche Rechtsschutz, wie er im Asylgesetz vorgesehen ist, nach wie vor gewährleistet ist», sagt Rieder.



Die Rechtsvertreter würden deshalb grundsätzlich weiterhin an den Befragungen teilnehmen. Ausser eben, sie seien wegen der pandemiebedingten Situation und wegen damit zusammenhängenden Personalengpässen an einer Teilnahme verhindert, so Riede. Die Rechtsvertreterinnen und Rechtsvertreter würden zudem weiterhin alle notwendigen Unterlagen erhalten.

Rieder sagt, dass es unerlässlich sei, Personen ohne Schutzbedarf konsequent wegzuweisen. «Eine Sistierung der Asylverfahren würde längerfristig nur zu Kapazitätsproblemen führen. Damit könnten die Massnahmen des Bundes zur Bewältigung der Corona-Krise ernsthaft gefährdet werden.»

Auch Lob für den Bund

Nebst der Kritik am Vorgehen des Bundesrats im Asylbereich loben Organisation wie Amnesty International, SP-Politikerin Samira Marti und die Rechtsanwälte Frei und Marti andere Massnahmen, die der Bund verordnet hat. So beispielsweise die Schaffung von zusätzlichen Plätzen für die Unterbringung von Asylsuchenden.

So dürfen militärische Anlagen des Bundes vorübergehend zu diesem Zweck genutzt werden. Auch zivile Bauten dürften genehmigungsfrei zur Unterbringung Asylsuchender oder zur Durchführung von Asylverfahren genutzt werden.

Diese Massnahme dürfte als Reaktion auf die Kritik von Hilfsorganisationen, Politikern und Teilen der Bevölkerung verstanden werden, dass die Massnahmen des BAG in Asylzentren – etwa die Einhaltung des Mindestabstandes – nur schwer umzusetzen seien.

Stillgelegte Zentren wieder in Betrieb

Rechtsanwalt von Wartburg sagt dazu: «Die bisherigen Zustände in den einzelnen Asylunterkünften sind tatsächlich bedenklich.» Der Beschluss des Bundes, die Unterbindungskapazitäten zu erhöhen, sei daher richtig. «Es ist zu hoffen, dass die BAG-Richtlinien künftig eingehalten werden können und der Schutz der Gesundheit der Betroffenen dadurch gewährleistet ist.»

Wann die Umsetzung der Massnahme, Asylsuchende in andere Unterkünfte zu bringen, vorgesehen ist, kann das SEM nicht konkret sagen. «Das ist ein laufender Prozess», sagt Sprecher Lukas Rieder. In der Zwischenzeit nutze das SEM die Bettenkapazität nur zu 50 Prozent, damit die Abstandsregeln des BAG eingehalten werden könnten.

«Um dies auch längerfristig sicherzustellen, erhöht das SEM seine Unterbringungskapazitäten bis im Sommer auf 5'000 Plätze und nimmt temporär stillgelegte Zentren wieder in Betrieb, aktuell das Bundesasylzentrum Muttenz.» Die nötigen Vorbereitungsarbeiten werden einige Wochen in Anspruch nehmen.


Bilder des Tages

Zurück zur Startseite