Sein Mut steckt an Wie Wolodymyr Selenskyj gerade «Teil der Geschichte» wird

phi/DPA

28.2.2022 - 12:32

Der 44-Jährige ist kein Profi – doch obwohl der ukrainische Präsident erst vor drei Jahren in die Politik eingestiegen ist, gelingt ihm Historisches, während sein Land angegriffen wird. Wer ist Wolodymyr Selenskyj?

Es ist ein Auftritt, der Europa nachhaltig verändert. Am vergangenen Donnerstag tagt in Brüssel der EU-Ministerrat, als der ukrainische Präsident per Video zugeschaltet wird. Die 27 Mitgliedsstaaten haben sich bis dato weder durch Einigkeit hervorgetan, noch besonders schnell auf Krisen regieren können.

Das war vor der Ansprache von Wolodymyr Selenskyj. Der 44-Jährige spricht eindringlich zu den EU-Politikern, erklärt ihnen die Lage und endet mit dem Hinweis, dass sie ihn womöglich zum letzten Mal gesehen haben.

Nach dieser Rede ist nichts mehr in Europa, wie es vorher war.

Sichtlich aufgewühlte EU-Grössen am Donnerstagabend nach der Rede von Wolodymyr Selenskyj.
Sichtlich aufgewühlte EU-Grössen am Donnerstagabend nach der Rede von Wolodymyr Selenskyj.
AP

«Es war sehr emotional», erinnert sich ein anonymer Offizieller im Gespräch mit einem Journalisten des «Guardian». «Die Staatschefs waren tief betroffen, die Stille im Raum war beeindruckend – eine heftige Atmosphäre.» «Rationale Positionen», die die Eigeninteressen der jeweiligen Staaten repräsentierten, seien über Bord geworfen worden.

Es ist also Ukraines Präsident selbst, der den Weg freimacht für eine geschlossene, gewichtige Reaktion der EU. «Ich glaube, Selenskyjs Intervention wird Teil der Geschichte werden», sagt der EU-Bürokrat.

Und nicht nur im Westen schindet der Mann Eindruck.

Selenskyj wirkt auch nach Innen, wenn er eine Evakuierung mit den Worten ablehnt: «Ich brauche Munition, kein Taxi.» Wenn die russische Propaganda meldet, er sei geflohen, filmt sich der Präsident am Freitag selbst mit Kabinettsmitgliedern: «[Alle] sind hier. Der Präsident ist hier,», sagt Selenskyj. Ihre Gesichter zeigen Entschlossenheit. 

Mit solchen einfachen, aber effektiven Botschaften trägt er dazu bei, dass der Widerstandswille der Ukraine so gross geworden ist. Gleichzeitig spricht er auch auf Russisch den Gegner an und beschwört das Nachbarland, den Krieg zu beenden, damit nicht so viele russische Soldaten sterben müssten. Der Mann macht anscheinend alles richtig.

Der mit dem Volk spricht

In der ukrainischen Hauptstadt Kiew verteidigen Präsident Woldymyr Selenskyj und der Bürgermeister Vitali Klitschko die Unabhängigkeit des Landes gegen Präsident Wladimir Putin. Und sie rufen die Menschen zu den Waffen im Kampf um ihre Freiheit. Wer wird am Ende siegen?

Seine rauchige Reibeisenstimme ist für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in seinem Kampf gegen Kremlchef Wladimir Putin vielseitig einsetzbar. Der ehemalige Komiker und Schauspieler spricht mal leise beruhigend und warnt vor Panik in Kiew angesichts des Vormarsches russischer Truppen.

Und wenn der 44-Jährige sich auf Russisch an Putin und die Russen in Moskau wendet, kann er seine Stimme wie Eisen klirren lassen. Warum Putin seine Soldaten zum Sterben und in die Kriegsgefangenschaft in die Ukraine schicke, fragt er am Samstag etwas übernächtigt in seinem militärgrünen Pullover in einer seiner vielen Videobotschaften.

Vom Comedy-Set ins Präsidentenamt

«Ich bin hier», sagt er am Morgen in der Bankowa-Strasse im Zentrum von Kiew. Er ist in der Nähe des Präsidentensitzes und will per Video russische Behauptungen entkräften, er habe sich längst ins Ausland abgesetzt. Russland lüge. Seit Tagen gewinnt der zuletzt in den Umfragen schwächelnde Staatschef an Profil, weil er sich mit scharfen Worten wehrt gegen den grössten Angriff auf die Ukraine seit dem Zweiten Weltkrieg.



Ausgerechnet Russland, mit dem die Ukraine in der Sowjetunion zusammenlebte und gemeinsam gegen Hitlerdeutschland kämpfte, greift das in die EU und die Nato strebende Land an. Wie hoch die Zahl der Toten und Verletzten ist, lässt sich kaum überprüfen. Aber es sind viele. Und Zehntausende Menschen in der Ukraine fliehen vor den russischen Panzern – in Luftschutzbunker oder ganz raus aus dem Land.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vor Ausbruch des Krieges bei ukrainischen Soldaten in Donezk. (Archiv)
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vor Ausbruch des Krieges bei ukrainischen Soldaten in Donezk. (Archiv)
Bild: Keystone

Erst vor drei Jahren wechselte der durch eine Comedyserie bekannte Schauspieler Selenskyj, der einen entscheidungsfreudigen Präsidenten spielte, Russisch sprach und damit auch viele in Russland zum Lachen brachte, ins höchste Staatsamt. Er hatte die Wahl im April 2019 mit Rekordzustimmung von 73 Prozent gewonnen. Dennoch konnte der Politneuling nur wenige populäre Wahlversprechen umsetzen. Er hat vor allem versprochen, den Krieg zu beenden. Nun findet er sich in einem Blutvergiessen wieder.

Selenskyj hält dem Kampf stand

Aber er hält zum Ärger Moskaus dem Kampf gegen Putin bisher stand. Auch das ukrainische Militär steht an seiner Seite. Und viele Bürger, die ihren Präsidenten schützen wollen. Selenskyjs Armee jedenfalls folgte Putins Aufforderung nicht, die Regierung in Kiew zu stürzen. Selenskyj bedankte sich in den sozialen Netzwerken bei Bundeskanzler Olaf Scholz für die deutsche Waffenlieferung. Die Ukraine brauche die Panzerfäuste und Flugabwehrraketen. Selenskyj schrieb im Kurznachrichtendienst Twitter: «Weiter so, Kanzler Scholz.» Die Anti-Kriegs-Koalition sei in Aktion.

Selenskyj gibt sich staatsmännisch und übersieht auch nicht, dass zahlreiche Russen den Feldzug Putins scharf verurteilen. Viele Ukrainer und Russen sind auf das Engste familiär miteinander verbunden. Selenskyj hält das Menschliche stets hoch bei allem Druck von Moskau. Trotz seiner Popularitätswerte von zuletzt gerade einmal 30 Prozent laut Umfragen hat er durchblicken lassen, dass er 2024 zur nächsten Präsidentenwahl wieder antreten will.

«Die Nacht war schwer»

Als einer seiner wichtigsten Konkurrenten gilt Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko, mit dem er auch in diesen schwersten Krisenzeiten in Kiew keinen Schulterschluss übt. Seit 2014 führt der Ex-Boxweltmeister die Stadt mit ihren 2,8 Millionen Einwohnern. Genau wie Selenskyj tritt Klitschko seit Tagen nur noch in olivgrünen Militär-Pullis auf.



Auch ihm steht die Müdigkeit ins Gesicht geschrieben. «Die Nacht war schwer, doch es gibt keine russischen Truppen in der Stadt», sagt der 50-Jährige in einem Video, das er im sozialen Netzwerk Telegram veröffentlicht. Es gebe aber einzelne Saboteure, die ausfindig gemacht würden. Seit dem 24. Februar seien neun Zivilisten in Kiew getötet worden, darunter ein Kind, sagt er am Sonntag. Auch 18 ukrainische Sicherheitskräfte seien getötet worden. Verletzt wurden demnach bislang 106 Menschen, darunter 47 Zivilisten. Er erinnert an die Sperrstunden und mahnt, nur auf die Strasse zu gehen, um in einem Bunker Schutz zu suchen.

Mal steht Klitschko vor einer Stadtkarte Kiews, wenn er spricht, mal vor der ukrainischen Flagge. Ausserdem informiert er über Verletzte und über Luftschutzalarm – und vor allem schwört er die Bewohner aufs Durchhalten ein. «Die Gerechtigkeit ist mit uns.» Doch in seiner Stadt breiten sich Angst und Unsicherheit immer mehr aus. Der sonst so belebte Hauptplatz Maidan ist auf beinahe gespenstische Art menschenleer.

25'000 automatische Waffen an Kiews Einwohner verteilt

Schwerbewaffnete Soldaten laufen an anderer Stelle durch die Trümmer, die russische Luftangriffe hinterlassen haben sollen. Die Metro in der Stadt hat den Betrieb eingestellt, die Stationen dienen nun als Schutzräume. Zur Abwehr des befürchteten grossen Angriffs haben die Behörden eigenen Angaben zufolge insgesamt 25'000 automatische Waffen sowie 10 Millionen Patronen an die Einwohner verteilt. Auch Panzerabwehrwaffen seien ausgehändigt worden. Auch Gefangene sind auf freiem Fuss, um bei der Verteidigung zu helfen.

Die Raketeneinschläge und Explosionen klingen wie «Gewitterdonner», erzählt ein Reporter der Deutschen Presse-Agentur aus einem Schutzkeller in einem Hotel am Stadtrand am Samstag. In der Wohnung im eleganten Stadtzentrum sei es nicht mehr sicher gewesen. Die Strassen sind leer.

Der Kiewer Andrej Masur wiederum ist das erste Mal seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ruhig. Und das, obwohl sich die Lage auch rund um die Hauptstadt zuspitzt. «Ich habe endlich eine Waffe», sagt er und zeigt sie stolz übers Videotelefon. Er habe immer Angst vor Waffen gehabt, auch, weil er nicht wirklich wisse, wie man sie benutze. Sieben Schuss, denke er, habe er. «Damit kann ich immerhin wen erschrecken oder mir etwas Zeit verschaffen», sagt er. «Auch ein Messer habe ich bekommen. Mein Freund meinte, am besten ins Bein rammen, wenn nötig.»

Stolz auf den Präsidenten

Masur betreibt eigentlich ein Reisebüro mit 40 Mitarbeitern. Der 38-Jährige erzählt, er habe sich aber immer schon für andere eingesetzt und gern geholfen. Trotz des Krieges und der Gefahr auch an diesem Samstag: Er ist seit den frühen Morgenstunden quer durch Kiew unterwegs. Erst für Bekannte einkaufen, vor allem alleinstehende Frauen, die das Haus wegen des andauernden Beschusses der Stadt nicht verlassen wollten. Aber auch für das Militärspital. In einer Facebook-Gruppe habe er gelesen, dass dort Lebensmittel benötigt würden. Nun fährt er mit einem vollen Kofferraum mit Fisch, Keksen, Tee und Cola durch die Stadt. Er gesteht, er sei über eine rote Ampel gefahren, als der Fliegeralarm wieder einmal losging.

Aufgrund der aktuellen Lage jedoch gelinge kaum etwas auf Anhieb. Er habe vor mehreren geschlossenen Supermärkten gestanden – und vor anderen, in denen es etwa kein Brot oder keine Butter mehr gegeben habe. «Die halben Regale waren leer», erzählt er weiter. Mittlerweile sei er bei der dritten Tankstelle, die kein Benzin hat. Diesel und Gas gibt es noch. Mehrere Brücken in der Stadt sind bereits gesperrt und er muss kurzfristig eine andere Route wählen. Immer wieder wird er an Kontrollpunkten angehalten und auch sein Kofferraum durchsucht.

Er will bleiben. «Ich war auch nie ein Fan unseres Präsidenten Selenskyj, aber ich muss sagen, ich bin wirklich stolz auf ihn und wie er alles meistert», sagt Masur. «Ich danke ihm für seine Führung, sein gutes Beispiel ist ansteckend.» Prognosen will er keine abgeben, das sei auch nicht seine Aufgabe, sagt er. Er denke aber nicht, dass es zu einem schnellen Ende kommt. «Putin will uns demütigen. Aber ich bin mittlerweile bereit, mein Leben für unsere Freiheit zu geben.»

Sympathisanten Russlands haben ihre Meinung geändert

Beruhigt hat sich auch der Kiewer Pavel Gansewytsch. «Am ersten Tag standen natürlich viele unter Schock», erzählt er am Sonntag am Telefon. Hier und da sei auch noch eine Ehefrau zu beruhigen, aber mittlerweile habe der absolute Grossteil der Menschen bereits eine neue Rolle gefunden und wickle in fast stoischer Ruhe ab, was zu tun sei. Die einen brächten Familien in Sicherheit, die anderen seien in die Territorialverteidigung eingetreten, viele Veteranen vor allem der Spezialeinheiten seien wieder gefechtsbereit.

Gansewytschs Arbeitskollegen aus einer IT-Abteilung hätten sogar schon die ersten Instruktionen für künftige Hacker ausgearbeitet, um russische Websites anzugreifen. «Was auch immer kommen mag, wir sind bereit», sagt er mit ruhiger Stimme. Wenig später schickt er ein Foto von sich mit einer Jagdwaffe.

Eine, wie Gansewytsch sagt, «wichtige» Entwicklung wolle er noch loswerden. Vor der Invasion Russlands habe es doch nicht wenige Ukrainer gegeben, die mit Russland sympathisiert hätten. Sie hätten russisches Fernsehen geschaut und immer darauf bestanden, dass Moskau ein Freund sei. «Ich merke, sie haben jetzt ihre Meinung geändert», sagt er. «Jetzt einen Menschen zu treffen, der sagt, dass Russland nicht unser Feind ist, ist fast unmöglich.»

dpa/uri/phi

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