Russland-Experte «Die Unterstützung für Putin wird im Volk abnehmen»

Von Oliver Kohlmaier

25.2.2022

Sicherheitskräfte führen in Moskau einen Teilnehmer einer Protestkundgebung gegen den russsischen Einmarsch in die Ukraine ab. 
Sicherheitskräfte führen in Moskau einen Teilnehmer einer Protestkundgebung gegen den russsischen Einmarsch in die Ukraine ab. 
Bild: EPA

Der Westen reagiert mit Finanzsanktionen auf Russlands Einmarsch in die Ukraine. Sind reiche Oligarchen jetzt wütend auf den Kreml-Chef? Und glaubt die Bevölkerung Putins Argumenten überhaupt? Das erklärt Russland-Experte Ulrich Schmid.

Von Oliver Kohlmaier

Bereits am Mittwoch sprach blue News mit Russland-Experte Ulrich Schmid. Tags darauf werden schlimmste Befürchtungen Realität. Russland greift die Ukraine von allen Seiten an. 

Zur Person
Foto: Privat

Ulrich Schmid ist Professor für die Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen. Er forscht zu Politik und Medien in Russland sowie zum Nationalismus in Osteuropa.

Herr Schmid, nur einen Tag nach unserem Gespräch ist der Angriff Russlands Realität geworden. Für Wladimir Putin sind alle früheren Sowjetrepubliken «historisch russische Gebiete». Wie kommt er zu dieser Sichtweise?

Seit dem Protestwinter 2011/12 leidet die russische Führung an einem demokratischen Legitimitätsdefizit. Die Geschichte ist zu einer der wichtigsten Machtressourcen des Kremls geworden. Putin behauptet, dass Russland über eine tausendjährige Staatlichkeit verfüge, die von der Kiewer Rus über das Moskauer Fürstentum, das Zarenreich und die Sowjetunion direkt zur Russischen Föderation führe. Daraus leitet er imperiale Herrschaftsansprüche und politische Einflusszonen ab.

In seiner Ansprache am Fernsehen wiederholte Putin viele der Argumente aus seiner düsteren Rede vom Montag und sagte unter anderem: «Russland kann sich nicht sicher fühlen, sich nicht entwickeln und nicht existieren, wenn es ständig von der Ukraine bedroht wird.» Wer glaubt das in Russland ernsthaft?

Das ist der grosse Unterschied zur Annexion der Krim 2014. Damals konnte Putin behaupten, die Krim sei schon immer russisch gewesen. Das stimmt zwar historisch nicht, traf aber auf einen breiten Konsens in der russischen Bevölkerung. Die Begründung des aktuellen Angriffs auf die Ukraine ist derart absurd, dass die Unterstützung in der russischen Bevölkerung für Putin abnehmen wird.

Die Propagandamaschine des Kreml läuft auf Hochtouren. Ist es in der russischen Medienlandschaft überhaupt möglich, an verlässliche Informationen zu kommen?

Wer will, kann ohne Weiteres auf unabhängige Informationen zurückgreifen. Es gibt einige wenige kritische Medienportale in Russland. Darüber hinaus unterhalten aber auch die BBC, die Deutsche Welle und Radio Free Europe journalistisch hochwertige Websites. Das Problem liegt darin, dass vor allem die ältere Generation hauptsächlich Sendungen aus dem Staatsfernsehen konsumiert.

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Putins Macht stützt sich unter anderem auf ein Netzwerk schwerreicher Oligarchen, denen wohl weitere, womöglich drastische Sanktionen drohen. Werden die nicht langsam wütend?

Die Oligarchen aus Putins Entourage haben keine Alternative. Viele von ihnen wurden bereits seit 2014 mit persönlichen Sanktionen belegt und sind dem System Putin auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Blicken wir noch nach China. Zuletzt schien sich das Land auf Russlands Seite zu schlagen. Was könnte dies langfristig für die Beziehungen beider Länder bedeuten, die nicht immer die besten waren?

Die letzten Schüsse an der russisch-chinesischen Grenze fielen noch in den 1960er-Jahren. China und Russland bilden keine nachhaltige Wertegemeinschaft, sondern führen eine Zweckehe. Im Moment stimmen sie vor allem in der Ablehnung des Westens überein. Darüber hinaus wird die Agenda von Opportunismus bestimmt. China hat sich auffällig zurückgehalten bei einer Bewertung des russischen Angriffs. Das hat mit der abtrünnigen Insel Taiwan zu tun, das China möglicherweise in naher Zukunft selbst in einem militärischen Handstreich zurückerobern will.