Putin beschiesst Ukraine grossflächig«Beliebig lange kann Russland die Intensität nicht beibehalten»
Von Gil Bieler
3.1.2024
Wieder schwere russische Luftangriffe auf Ukraine
Russland hat die Ukraine am Dienstag erneut mit Drohnen und Raketen angegriffen. Laut Behörden waren vor allem die Hauptstadt Kiew und die Grossstadt Charkiw im Nordosten betroffen.
03.01.2024
Raketen, Drohnen, Marschflugkörper: Russland beschiesst die Ukraine so stark wie lange nicht mehr. Die Angriffe haben eine neue Qualität, sagt Sicherheitsforscher Niklas Masuhr. Chancenlos ist Kiew aber nicht.
Von Gil Bieler
03.01.2024, 20:00
Gil Bieler
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Die Ukraine erlebt derzeit massiven Raketenterror der russischen Armee. Deren Angriffe sind komplexer als früher, schätzt ETH-Sicherheitsforscher Niklas Masuhr ein.
Doch die Wehrhaftigkeit der Ukrainer könnte sich in absehbarer Zeit verbessern. Grund seien Verbesserungen bei der Kompatibilität verschiedener Waffensysteme und die bevorstehende Lieferung von F-16-Kampfjets.
Kremlherrscher Wladimir Putin ist vor dem Hintergrund der kommenden Präsidentschaftswahl auf Erfolge dringend angewiesen.
Seit Ende Dezember wirft Wladimir Putin in der Ukraine alles in die Waagschale, was die Waffenlager hergeben: Die russische Armee überzieht Ortschaften im ganzen Land mit Luftangriffen. Allein in der Nacht zum Dienstag seien 99 Raketen und Marschflugkörper abgefeuert worden, teilte die ukrainische Seite mit. So geht das derzeit Nacht um Nacht.
«Kein anderer Staat hat je solch vereinte Attacken abgewehrt», klagt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Und auch wenn die Ukraine sich damit rühmt, die meisten russischen Geschosse abfangen zu können: Immer wieder gelingen Putins Armee Treffer. Zivilist*innen sterben, Häuser und Infrastruktur werden beschädigt.
Russland greift jetzt koordinierter an
Niklas Masuhr, Sicherheitsforscher der ETH Zürich, beobachtet, dass die jüngsten russischen Schläge komplexer ausgefallen sind als in früheren Phasen des Kriegs. «Angriffsdrohnen werden vor allem dafür genutzt, in der ersten Welle die ukrainischen Luftverteidigungssysteme aufzudecken, während land-, luft- und seegestützte Präzisionswaffen dann so geschichtet werden, dass möglichst viele Raketen ins Ziel kommen.»
Klar sei aber: «Beliebig lange können die Russen diese Intensität natürlich nicht aufrechterhalten», erklärt Masuhr.
Und: Die Wehrhaftigkeit der Ukrainer könnte sich in absehbarer Zeit verbessern. Masuhr nennt hierbei zum einen das «FrankenSAM»-Projekt, das westliche und (post-)sowjetische Sensor- und Werfersysteme kombinieren soll. Dies könnte den «Flickenteppich» aus den verschiedenen bislang gelieferten Systemen merklich ausbessern. Zum anderen stehe die Lieferung der von Selenskyj sehnlichst erwarteten F-16-Kampfjets an.
Die ersehnten F-16 rücken näher
Eine begrenzte Anzahl F-16 würde zwar nicht automatisch eine ukrainische Überlegenheit in der Luft bedeuten. «Aber: Insbesondere die Fähigkeit, Luftziele auf deutlich höhere Entfernungen aufzuspüren, zu tracken und zu bekämpfen, kann eine Abwehrwirkung gegenüber der russischen Luftwaffe haben», erklärt Masuhr. Die ukrainische Luftabwehr, die bisher sehr eindimensional vom Boden aus agieren müsse, werde so markant entlastet.
Welche konkreten Ziele die jüngste russische Angriffsserie verfolgt, ist unklar, wie die NZZ schreibt – abgesehen von der Einschüchterung der ukrainischen Bevölkerung. Die britischen Geheimdienste teilen in einer Analyse vom Mittwoch jedoch mit, dass vermehrt die ukrainische Verteidigungsindustrie ins Visier genommen werde, nicht mehr unbedingt die Strominfrastruktur wie im letzten Winter.
Auch ETH-Forscher Masuhr beobachtet, dass vermehrt industrielle Einrichtungen angegriffen würden – «insbesondere solche, die mit den Bemühungen der Ukrainer verknüpft sind, Drohnensysteme variabler Grösse herzustellen».
Putin braucht Erfolge vor den Wahlen im März
Wladimir Putin steht derweil unter Zugzwang: Der russische Machthaber bewirbt sich bei den Präsidentenwahlen im März um eine erneute Amtszeit und will bis dahin auch Erfolge an der Kriegsfront vorweisen können. Wo könnte dies am ehesten gelingen?
Bei ihrer Offensive am Boden widmen sich die Russen laut Masuhr derzeit vor allem der Stadt Awdijiwka. Aber auch in Richtung Kupjansk im Norden wollen sie vorstossen, das «ein bedeutender logistischer Knotenpunkt der Ukrainer» sei. Im Fokus stünden ferner Gebiete, die im Zuge der ukrainischen Gegenoffensive im Sommer an der Saporischschja-Front befreit wurden.
Ukraine hat aus den Fehlern von Bachmut gelernt
«Bei Awdijiwka scheinen die Russen auf eine Wiederholung der Dynamik der Einnahme von Bachmut abzuzielen», erklärt Masuhr. «Es geht ihnen also darum, die Ukrainer einzukreisen und abzunutzen.»
Derzeit hätten die Ukrainer in der Schlacht dort aber klar weniger Verluste zu beklagen als die Russen. Und: Der ukrainische Oberbefehlshaber Valerii Zaluzhnyi habe bereits angedeutet, dass seine Truppen sich zurückziehen würden, sollte das Verhältnis zugunsten der Russen kippen.
«Das ist insofern relevant, als das lange Festhalten an Bachmut unter hohen Verlusten erfahrener Einheiten bereits im Sommer von einigen Analyst*innen als militärischer Fehler betrachtet wurde», erklärt Masuhr die geänderten Vorzeichen. «Dies hat sich aufgrund der grösstenteils gescheiterten Gegenoffensive im Sommer auch bestätigt.»