Lagebild Ukraine Awdijwka ist Putins neues Bachmut

Von Philipp Dahm

26.10.2023

Krieg in der Ukraine: Schoigu lobt russische Soldaten

Krieg in der Ukraine: Schoigu lobt russische Soldaten

Besuch des russischen Verteidigungsministers Sergej Schoigu an der russisch-ukrainischen Front. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums besuchte Schoigu am Mittwoch Soldaten in der Region Donezk und informierte sich über die Lage vor Ort. In jüngster Zeit war Schoigu mehrfach im russischen Fernsehen zu sehen.

26.10.2023

Trotz schwerer Verluste bricht der Kreml die Schlacht um Awdijwka nicht ab. Die Toten sind offenbar einkalkuliert. Nun rekrutiert der Kreml sogar Häftlinge als Sturmtruppen: Erinnerungen an Bachmut werden wach.

Von Philipp Dahm

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Im Norden von Awdijwka konnten russische Truppen vorrücken und haben eine Flagge auf der Anhöhe Terrikon gehisst.
  • Trotz immenser Verluste schiebt Moskau weiter Mensch und Material nach, um die Stadt zu umfassen und die Verteidiger zum Rückzug zu zwingen.
  • Wie in Bachmut sollen Sträflinge als Sturmtruppen ins Gefecht geschickt werden. Sie werden nun vom Verteidigungsministerium rekrutiert, nicht von der Gruppe Wagner.
  • Kiew evakuiert Kinder aus Teilen von Charkiw, Donezk und Cherson.
  • Die russische Armee erhöht im Norden der Front den Druck.

Die Materialschlacht um Awdijwka geht weiter – und es sieht ganz so aus, als würde Wladimir Putin dort die Taktik wiederholen, die schon in Bachmut zum Erfolg geführt hat: Welle um Welle werden trotz allen Widerstandes Mensch und Material in die Waagschale geworfen. Auf diesem Wege ist es der Armee nun gelungen, Terrikon fürs Erste zu erobern.

Terrikon ist eine bis zu 25 Meter hohe Anhöhe südwestlich von Krasnohoriwka, deren Einnahme das Schliessen der Zange um Awdijka erleichtern dürfte. Falls sie gehalten werden kann: Terrikon bietet keine Deckung. Als die Russen auf der Anhöhe ihre Fahne hissen, sorgt eine ukrainische Drohne dann auch prompt für deren Niedergang – siehe obigen Post.

Putins Truppen rücken bei Awdijwka vor

Moskaus Streitkräfte sind bis an die Bahnstrecke vorgerückt und haben die Nachschub-Verbindung nach Awdijwka unterbrochen. Kiews Kräfte antworten mit Artillerie- und Drohnen-Angriffen.

Von Krasnohoriwka aus rückt die russische Armee nach Westen bis an die Bahnlinie heran. Terrkon liegt im südlichsten Zipfel des besetzten Gebiets.
Von Krasnohoriwka aus rückt die russische Armee nach Westen bis an die Bahnlinie heran. Terrkon liegt im südlichsten Zipfel des besetzten Gebiets.
Karte: @Majakovsk73

Awdijwka selbst liegt bereits seit 2014 an der Frontlinie – und ist wie Bachmut stark befestigt. Deshalb sollen die Verteidiger mit einer Zangenbewegung zum Rückzug gezwungen werden. Unterstützt wird die Offensive wie in Bachmut von Artillerie und der Luftwaffe, die vermehrt Gleitbomben einsetzt.

Die versuchte Einkreisung von Awdijwka weckt Erinnerungen an die Schlacht um Bachmut.
Die versuchte Einkreisung von Awdijwka weckt Erinnerungen an die Schlacht um Bachmut.
Karte: @Majakovsk73

Auch die schweren Verluste durch stetige Sturmangriffe wecken Erinnerungen: Eine Auswertung von Satellitenbildern soll ergeben, dass den Russen zwischen dem 10. und 20. Oktober über 109 Fahrzeuge verloren gingen, also rund eine Brigade. Die wahre Zahl dürfte noch höher liegen. Dass der Kreml dennoch so unbeirrt angreifen lässt, deutet darauf hin, dass die Offensive lange geplant ist.

Dieselben Muster wie in Bachmut

Verluste werden dabei in Kauf genommen: Sogar das Sträflingsmuster wiederholt sich. Doch diesmal werden sie nicht von der Gruppe Wagner rekrutiert, sondern vom Verteidigungsministerium, berichtet die BBC: Ihre Einheiten heissen Schtorm-Z, wobei Z für zek steht, also Häftling. Auch undisziplinierte Soldaten landen in dieser Truppe, die an vorderster Front kämpfen muss.

(Link zum obigen Post)

In Sachen Nachschub und medizinische Versorgung steht Schtorm-Z ganz unten auf der Liste, meint der britische Geheimdienst. Aber: Wer die Todeszone ein halbes Jahr überlebt, ist frei. Auch Zahlen zur Vergütung werden genannt: Das monatliche Salär beträgt laut BBC-Quellen knapp 2000 Franken, eine Verletzung wird mit knapp 29'000 Franken abgegolten, und im Todesfall werden Hinterbliebenen 48'000 Franken ausgezahlt.

Dass die Schlacht um Awdijwka ernst ist, zeigt sich auch darin, dass Kiew laut BBC 200 Kinder aus der Region Donezk evakuieren lässt. Aus dem Nordosten des Oblasts Charkiw müssen 275 Unter-18-Jährige umsiedeln.

Russland macht Druck im Norden 

Denn auch im nördlichsten Frontabschnitt erhöht der Kreml den Druck. Ziel ist Kupjansk: Vom Norden her greifen russische Truppen das Dorf Synkivka an, das rund zehn Kilometer vor der Schlüsselstadt liegt. Vom Osten her attackieren Moskaus Einheiten das Dorf Ivanivka. Um die Front zu sichern, hat Kiew die Infanterie-Einheit Kraken in die Region verlegt, die dem ukrainischen Militär-Geheimdienst untersteht.

Im Norden der Front erhöht die russische Armee den Druck auf Kupjansk (im Bild links unten).
Im Norden der Front erhöht die russische Armee den Druck auf Kupjansk (im Bild links unten).
Screenshot: YouTube/Military Lab

Und was ist mit dem Kampf am Dnjepr-Ufer? Die ukrainischen Kommandos können den dritten Brückenkopf, den sie bei Krynky am linken, östlichen Ufer des Flusses errichten. Sie haben offenbar die Verbindungsstrasse E58 alias T2206 erreicht, doch weitere Vorstösse sind nicht zu erwarten.

Lage am Dnjepr: Aus dem Oblast Cherson werden laut BBC derzeit 800 Kinder evakuiert (grüne Pfeile).
Lage am Dnjepr: Aus dem Oblast Cherson werden laut BBC derzeit 800 Kinder evakuiert (grüne Pfeile).
Karte: @ChuckPfarrer

Wolodymyr Selenksyjs Truppen haben das Problem, dass sie von der Fluss-Ebene aufwärts kämpfen müssen. Bisher kann weiterhin kein schweres Gerät über den Fluss gebracht werden. Wenn die Einheiten zu weit vorrücken, kann die Artillerie am rechten, westlichen Dnjepr-Ufer sie zudem nicht mehr decken. Und: Die Versorgung mit Nachschub ist kompliziert.