Wir sind die SchweizArchitektur-Experte Köbi Gantenbein: «Der HB Zürich ist das wichtigste Bauwerk der Schweiz»
Bruno Bötschi
4.9.2018
Köbi Gantenbein (62) denkt fast den ganzen Tag über Architektur und Baukultur nach – von Berufs wegen. Er ist Urgestein und Chefredaktor des Architektur- und Designmagazins «Hochparterre».
Zum 30. Geburtstag des Magazins unterhielt sich «Bluewin» mit ihm über die wichtigsten Bauwerke der Schweiz, hässliche Häuser und die Zukunft des Architekturlandes Schweiz.
Bluewin: Herr Gantenbein, was ist der Unterschied zwischen Architektur und Baukultur?
Köbi Gantenbein: Baukultur ist der Kranz von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine lebenswerte Umwelt entstehen kann, damit es Raum gibt für Architektur. Architektur ist das einzelne Objekt, das gute Bedingungen braucht, damit etwas Schönes entstehen kann. Gute Architektur braucht gute Bauherren, gute Architekten und braucht gute baukulturelle Bedingungen. Sonst funktioniert es nicht.
Welches sind für Sie persönlich die drei wichtigsten Bauwerke der letzten 20 Jahre in der Schweiz?
Ein wichtiges Bauwerk ist der Hauptbahnhof Zürich. Er wurde in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem Riesenkomplex ausgebaut – angefangen beim unterirdischen Shopville kamen später der S- und der Durchmesser-Bahnhof dazu. Trotz der grossen Baumasse ging dabei der Wille zur Schönheit nicht verloren. Der HB Zürich ist ein imposantes Bauwerk, das gut funktioniert. Jeden Tag werden dort mehrere Zehntausend Menschen komfortabel durchgeschleust. Der HB ist zudem Beweis dafür, wie hoch der Wert des öffentlichen Verkehrs in der Schweiz ist. Knapp älter als 20 Jahre ist die Therme Vals. Sie setzte ein Zeichen für den Aufbruch in den Bergen, für das Bauen, für den Fremdenverkehr. Obwohl die Therme später wirtschaftliche Schwierigkeiten bekam und ein «unfriendly takeover» erleiden musste bleibt sie ein wichtiges und gutes Bauwerk, das auch das Geld von Remo Stoffel überleben wird.
Und Ihre Nummer drei?
In den letzten 20 Jahren erlebte der Wohnungsbau in der Stadt eine Renaissance. Ein Beispiel dafür ist die Genossenschaft «Mehr als Wohnen» in Zürich-Leutschenbach. Für dieses Projekt schlossen sich mehrere Genossenschaften zusammen, um zu zeigen, wie vielfältig genossenschaftlicher Wohnbau aussehen und funktionieren kann. Beim Bau von Genossenschaftswohnungen steht die Masse im Vordergrund, damit die Wohnungen einigermassen günstig sind. Eine Herausforderung, die dazu führt, dass im konventionellen Wohnungsbau die immer gleichen Cremeschnitten-Klötze realisiert werden. «Mehr als Wohnen» beweist, dass es anders geht.
Warum gibt es eigentlich so viele moderne Gebäude, die nur hässlich und nicht menschengerecht sind?
Kürzlich rief die Zeitung «20 Minuten» die Leserschaft zur Wahl des hässlichsten Hauses der Schweiz auf. Gewählt wurde ein Wohnturm aus Beton in der Nähe des Triemli Spitals in Zürich. Ich aber sage, dieses Mehrfamilienhaus von Esther und Rudolf Guyer von 1955 ist ein Musterbeispiel für eine gelungene Grundrisskomposition, weil es pro Wohnung vier Balkone mit unterschiedlichen Ansichten bietet. Der verwitterte Beton ist schön, die Wohnungen gut zu gebrauchen, der Bodenverschleiss ist klein. Es ist ein robustes, gutes Stadthaus. Kurz: Die Geschmäcker und Vorlieben mögen verschieden sein, die Tatsachen geben aber mir recht.
Aus dem Jahr 1955 stammt Max Frisch berühmtes Zitat über das Schweizer Mittelland, das aufgehört habe, Landschaft zu sein: «Es ist nicht Stadt, auch nicht Dorf. Es ist ein Jammer.» – Wie gross ist Ihr Jammer im Jahr 2018 über das Schweizer Mitteland?
Was Max Frisch gesagt hat – und unter Architekten bis heute gang und gäbe ist – hat einen Hauch von Arroganz. Es ist die elitäre Sichtweise der urbanen Städter, die über die Agglomeration die Nase rümpfen. In den letzten Jahrzehnten hat sich jedoch viel getan in der Agglo, wo viele Menschen gerne wohnen. In der Region Zürich waren die Treiber dafür die S-Bahn und später die Glatttalbahn. Es sind neue, gute Stadtteile entstanden, wo die Leute gerne zahlbaren Wohnungen wohnen. Ich gehöre nicht zu denen, die sagen: Die Agglo ist furchtbar und alle die dort draussen wohnen, sind arme, kulturlose Tröpfe. Frisch hingegen war ein romantischer Urbanist und wäre, wenn er noch lebte, wohl auch heute noch am Jammern.
Gemäss Umweltschutzverbänden in der Schweiz werden heute 31 Quadratkilometer pro Jahr verbaut – das heisst jede Sekunde fällt ein Quadratmeter Boden dem Bauboom zum Opfer.
Das Vernichten unserer Landschaft und der Baumboom werden durch zwei Treiber massgeblich gefördert: Vor 50 Jahren beanspruchte eine Schweizerin, ein Schweizer eine Durchschnitts-Wohnfläche von 30 Quadratmetern, heute sind es 50. Zudem leben heute mehr Menschen in unserem Land. 2013 wollten wir Stimmbürger mit dem revidierten Raumplanungsgesetz eine Verdichtung nach innen erreichen. Wie das funktionieren soll, ist aber offen.Prinzipiell sind alle für das verdichtete Bauen, nur soll das bitteschön nicht vor der eigenen Haustüre geschehen. Die unsägliche «Einzonerei» auf dem Land dagegen ist deutlich schwieriger geworden, weil die Gesetzgebung griffiger wurde. Das ist ein Glück.
Behauptet wird, die Politik habe dem Treiben zu lange zugesehen, dabei läuft die Zersiedlung der Landschaft dem in der Verfassung verankerten Prinzip des «haushälterischen Umgangs» mit dem Boden zuwider. Wahr oder nicht?
Im Schweizer Parlament dominieren die Kräfte, die zwar in der Sonntagspredigt den haushälterischen Umgang mit dem Boden predigen, aber schon am Montag spielt diese Forderung oft keine Rolle mehr. Bei der aktuellen Beratung der zweiten Etappe der Revision des Raumplanungsgesetztes wird an allen Ecken und Enden versucht, Lockerungen einzubauen. So will etwa eine Motion des Zuger FDP-Ständerats Joachim Eder, dass der Schutz von geschützten Landschaften und Regionen gelockert wird, damit dort einfacher Bautenfür die Energiegewinnung oder den Fremdenverkehr, gebaut werden können. Kurz und gut, das Raumplanungsgesetz wurde in den letzten Jahren löchriger als jeder Emmentalerkäse.
Die Schweiz habe keine Skrupel, heisst es immer wieder, konsensfähige, aber hässliche Kolosse in bildschöne Umgebungen zu pflanzen. Ist es denn überhaupt noch möglich in Demokratien grosse architektonische Würfe zu realisieren?
Es gibt genügend Beispiele, die zeigen, dass es auch in einer Demokratie möglich ist, gute und schöne Architektur zu realisieren. Den Ausbau des HB Zürich habe ich bereits erwähnt. Wie AlpTransit Gotthard in die Landschaft gefügt worden ist, ist mustergültig, mitgeredet haben Dutzende Gremien. Ein Bauwerk mit hohen kulturellen Ansprüchen ist der Neubau des Schweizerischen Landesmuseum in Zürich. Dafür war eine langwierige, demokratische Auseinandersetzung nötig, aber am Ende konnte das Haus realisiert werden, weil die Bauherrschaft, also die Eidgenossenschaft, genug Schnauf hatte, und die Architekten Christ und Gantenbein nicht verzweifelt sind. Ich persönlich empfinde diese oft langen Wege nicht als Mangel, sondern sie sind Ausdruck unserer Staatsform.
Demnach sind Sie nicht der Meinung, dass die Schweiz eines der schönsten Länder der Welt ist, aber mit jedem Jahr hässlicher wird?
Nein, wir sind aber eines der reichsten Länder und können uns deshalb exzellente Bauten leisten. Die kostbaren Nullenergie-Maschinen etwa oder die exquisiten Strassenbauten. Ab und zu denke ich aber, dass etwas weniger Geld der Schönheit nicht schaden würde. Oder dass der Reichtum weniger dem Protzen und mehr der Schönheit zu Gute kommen sollte.
Würde man Sie machen lassen, wie würden Sie die Schweiz der Zukunft bauen?
Ich bin ein traditioneller, verfassungsliebender Schweizer. Ich würde durchsetzen, dass die Bauzonen jene Bereiche sind und bleiben, wo künftig gebaut werden darf. Was nicht zur Bauzone gehört, soll auch in Zukunft keine werden. Ich würde die Zersiedelungs-Initiative der Jungen Grünen gewiss buchstabengerecht umsetzen. Ich träume zudem von einer Schweiz, in der gute Architektur mit einem Steuerabzug belohnt wird. Weil ich gleichzeitig aber ein Etatist und Verteidiger eines wohlhabenden Staates bin, würde ich jene, die schlecht bauen, sich also zum Beispiel zu wenig um den Umweltschutz kümmern, mit einem Malus bestrafen. Der Staat würde viel Geld einnehmen.
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