Wir sind die SchweizMelanie Alexander: «Die Schweizer sind beim Tanzen oft gehemmt»
Bruno Bötschi
4.4.2018
Tanz und Musik faszinierten sie von klein auf. Melanie Alexander erfüllte sich ihren Wunsch, wurde Tanzlehrerin – und geniesst es, wenn sie den Schweizerinnen und Schweizern ihre Hemmungen nehmen kann.
Bluewin: Frau Alexander, sind die Schweizerinnen und Schweizer gute Tänzer?
Melanie Alexander: Ja. Ich glaube, es gibt überall auf der Welt gute Tänzerinnen und Tänzer. Den einzigen Makel, den Schweizerinnen und Schweizer haben: Sie sind oft gehemmt.
Woran könnte das liegen?
Das Tanzen liegt nicht unbedingt in unserer Kultur. Das heisst nicht, dass hierzulande schlechter getanzt wird als anderswo, unser Zugang ist einfach ein anderer.
Wie lösen Sie als Tanzcoach diese Hemmungen bei Ihren Schülerinnen und Schülern?
Ich versuche den Menschen, die zu mir kommen, auf Augenhöhe zu begegnen. Ich stehe nicht vorne hin und sage: «So Leute, macht bitte 'copy paste', tanzt mir alles ganz genau nach.» Stattdessen sage ich meinen Schülerinnen und Schülern: «Wir sind auf einem Spielplatz. Es gibt kein Richtig und kein Falsch.» Oft integriere ich auch Bewegungen in meine Abläufe, die meine Schüler aus Versehen gemacht haben. Das gibt mir Inspiration, denn ich will nicht nur Lehrerin sein, ich will auch immer etwas lernen. Und den Schülern kann ich so auf einfache Art ihre Hemmungen nehmen.
Die 92-jährige Othella Dallas, die seit fast sechs Jahrzehnten in Basel einer Tanzschule führt, sagte mir in einem Interview: «Die Schweizer sind zu perfekt. Wenn du tanzt, musst du deine Seele, dein Herz, deinen Bauch spüren. Es nützt nichts, wenn du die Schritte perfekt kannst, aber du nicht in dich gehst, kein Gefühl für deinen Körper entwickelst.»
Eine Aussage, der ich zustimme. Die Schweizer sind sehr analytisch veranlagt, was ja auch Vorteile hat. Aber wer tanzt, sollte mit seinem Herz Verbindung aufnehmen. Eine Schweizer Eigenart ist zudem, alles sofort perfekt machen zu wollen. Vor vier Wochen kam ein Mann zu mir, der einen speziellen Tanzstil lernen möchte. Nach der ersten Stunde war er verärgert darüber, dass er den Tanz noch nicht besser beherrschte.
Was taten Sie?
Ich versuchte ihn zu beruhigen, sagte ihm, Perfektion sei nicht alles. Er müsse nicht schon in der ersten Stunde, das mögliche Endresultat im Kopf haben. Stattdessen würden wir in den kommenden Wochen während den Tanzstunden zusammen auf eine Reise gehen. Die eigenen Ansprüche stehen uns oft im Weg. Ich versuche deshalb meinen Schülerinnen und Schülerin zuallererst Freude zu vermitteln, Freude am eigenen Körper zum Beispiel. Diese Entspannung hat einen direkten Einfluss auf die Fortschritte.
Welche Erinnerungen haben Sie an den ersten Tanz Ihres Lebens?
Ich erinnere ich mich an einen lebendigen Moment im Klassenlager. An einem Abend durften wir Schüler einen Fez organisieren. Während eines Spiels musste man allein mit geschlossenen Augen tanzen. Ein unglaublicher Moment. Während ich tanzte, fühlte ich mich frei, war total harmonisch mit meinem Körper. Es war, als würde ich durch eine innere Galaxie reisen.
Auf Ihrer Internetseite schreiben Sie: «Ich bin eine Mischung aus Texas und Graubünden, aufgewachsen in Effretikon.»
Ich habe in meinem Leben oft davon profitieren können, dass ich von klein auf verschiedene Kulturen kennenlernen durfte. Während Texas, die Heimat meines Vaters, gross und flach ist und dort ein feucht-warmes Klima herrscht, hat es in Graubünden, der Heimat meiner Mutter, Berge und Täler und die Mentalität der Menschen ist eine ganze andere. Man sieht es meinem Tanz an, dass sich verschiedene Einflüsse darin manifestieren.
Tanzen ist Ihr Leben. Sind Sie süchtig?
Früher war ich süchtig. Mittlerweile kann ich auch das Nichtstun geniessen.
Wie motivieren Sie sich, wenn Sie einmal keine Lust haben zum Training zu gehen?
Tanzen geht nicht ohne Disziplin. Weil ich heute aber vor allem als Lehrerin tätig bin und weniger auf der Bühne stehe, muss ich nicht mehr ganz so fit sein wie noch vor ein paar Jahren. Wenn ich müde bin, setze ich heute auch einmal einen Tag aus oder ich schlafe etwas länger.
Studien haben bewiesen, Tanzen ist gut für die Gesundheit. Es vermag chronische Schmerzen, Bewegungsstörungen und sogar Depressionen lindern.
Das kann ich nur bestätigen. Kürzlich sass ich bei einem Ball neben einem älteren Herrn. Er war schon ziemlich gebrechlich. Um Aufstehen zu können, musste er sich auf der Stuhllehne abstützen. Kaum fing der Mann aber an zu tanzen, schien seine Gebrechlichkeit wie weggeblasen. Ich bin überzeugt, Rhythmus und Tanz können auf heilsame Weise Körper und Geist zusammenzuführen. Tanzen kann bei Parkinsonkranken die Bewegungsfähigkeit verbessern, auch Demente und Depressive lassen sich so behandeln.
Kürzlich schrieb das deutsche Wochenmagazin «Spiegel»über die positiven Seiten des Tanzens. Der Titel der Geschichte lautete «Göttlicher Groove». Wahr oder nicht?
Ich bin kein Fan des Wortes «göttlich». Wenn es aber darum geht, dass man beim Tanzen mit allem verbunden ist, dann stimme ich der Aussage zu. Tanzen ist das Medium, das mir erlaubt, ganz im Jetzt zu sein. Während ich tanze, kann ich die Vergangenheit vergessen und ich habe weniger Angst vor der Zukunft. Der Tanz schafft auf natürliche Weise Achtsamkeit, weil ich dabei Empathie und Gelassenheit lerne, die Perspektiven wechseln und auch mal meine Gedanken und Gefühle einfach beobachten kann. Vielen Menschen ist die Welt heute zu schnell. Tanzen wirkt entschleunigend.
Wie wichtig ist Ihnen die Bühne, wie wichtig der Applaus des Publikums?
Ich war Eiskunstläuferin und habe erst mit 24 angefangen professionell zu Tanzen. Umso mehr habe ich jeden Moment auf der Bühne genossen. Ich stehe nach wie vor gerne auf der Bühne, bin aber nicht frustriert, dass es heute weniger passiert.
2010 wurde die Welt zu Ihrer Bühne: Aus 65'000 Bewerberinnen und Bewerbern wurden Sie von der italienischen Bekleidungsfirma Benetton für eine weltweite Fashion-Kampagne auserkoren. Plötzlich hingen in jeder Metropole riesige Plakate von Ihren Sommersprossen und Ihrem Afro.
Ich hatte über eine Agentur den Hinweis bekommen, dass Benetton neue Gesichter suche. Weil mir immer wieder gesagt wurde, ich hätte ein typisches Benetton-Gesicht, meldete ich mich an. Ich glaube, ich ging mit einer gesunden Portion Naivität an die Sache ran. Trotzdem hatte ich natürlich grosse Freude und war stolz, dass ich für die Kampagne ausgewählt wurde.
Tanzen ist eine flüchtige Kunst. Spüren Sie Trauer über diese Vergänglichkeit?
Nein. Das Schöne am Tanz ist, dass einem oft die Worte fehlen und man nicht erklären kann, was mit einem passiert, während man bewegt. Tanzen hat etwas Magisches.
Wollen Sie als Tänzerin perfekt sein?
Perfekt sein geht nicht. Aber ich will das Publikum mit meinem Tanz berühren können.
Wie wichtig ist es für Sie, wo Sie tanzen?
Ich schätze es, wenn es einen Boden hat, auf dem ich mich nicht verletze. Ich durfte schon in tollen Theatern in Paris tanzen, und ich habe es auch schon in besetzten Häusern getan. Aber der Grund, warum ich tanze, ist wichtiger, als die Show drum herum oder wie viele Menschen mir dabei zusehen.
Sie leben seit Jahren in Zürich: Wo tanzen Sie in der Limmatstadt am liebsten?
Wunderbare Erinnerungen haben ich an das Tanzprojekt, dass ich mit dem Zürcher Behinderten-Theater Hora durchführen durfte. Nachdem ich die Begabung und Begeisterung des Hora-Teams sah, entschloss ich mich kurzerhand, ein Video mit den Schauspielerinnen und Schauspielern zu drehen.
An welchem Ort in der Schweiz wollen Sie unbedingt einmal tanzen?
Ich träume davon, während eines warmen Sommerregens auf dem Monte Verità oberhalb von Ascona zu tanzen. Dieser Ort, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einer Handvoll Aussteigern besiedelt wurde, ist etwas besonders und ich bin gespannt auf die Energie.
Tanzen Sie hin und wieder auch einmal eine Nacht durch?
Ja, auf jeden Fall. I love it. Für die langen Nächte bevorzuge ich elektronische Musik. Schön ist, dass es DJs gibt, die auch in der elektronischen Musik einen feinfühligen Ansatz suchen. Es ist längst nicht mehr nur alles Bumbum.
Welche DJs meinen Sie?
DJ Stephan Bodzin studierte ursprünglich klassische Musik. Dieses Wissen lässt er in seine Sets einfliessen. Das mag ich sehr. Was ich auch mag, ist, wenn DJs echte Instrumente benützen, also elektronische mit natürlichen Tönen verbinden, wie es DJ Milo Häfliger tut. Das gibt mir Energie, eine Nacht durchzutanzen.
Haben Sie ein Lebensmotto?
Der indische Widerstandkämpfer Ghandi soll einmal gesagt haben: «We must become the change we want to see.» Wir sollen also nicht nur von einer besseren Welt träumen, sondern selbst einen Beitrag leisten und nicht darauf warten, dass die anderen den Anfang machen.
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