Aufzeichnungen eines Auschwitz-Insassen «Der Tod erscheint einem wie ein erfrischendes Dampfbad»
Bruno Bötschi
12.1.2025
József Debreczeni wird als Jude 1944 ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Nach der Befreiung schreibt er einen gnadenlosen Bericht über seine Erfahrungen. Das Buch ist erst jetzt auf Deutsch erschienen.
Bruno Bötschi
12.01.2025, 14:43
12.01.2025, 15:01
Bruno Bötschi
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Der ungarisch-jüdische Schriftsteller József Debreczeni wird am 1. April 1944 nach Auschwitz deportiert.
Debreczeni musste in mehreren Konzentrationslagern der Nazis Zwangsarbeit verrichten, aber er überlebte den Holocaust.
1950 veröffentlichte er einen Bericht über seine Erfahrungen im Buch «Hideg Krematórium. Auschwitz regénye» (zu Deutsch: Kaltes Krematorium. Auschwitz-Roman).
Erst jetzt, mehr als 70 Jahre später, ist der Bericht endlich auch in deutscher Sprache erschienen.
Während der Lektüre des 272-seitigen Buches überkommt einen immer wieder das Schaudern. Was auch damit zu tun hat, dass Debreczenis autobiografischer Bericht gleichzeitig auch «eine erstaunlich souveräne literarische Reportage des Schreckens» ist, wie es «Die Zeit» treffend beschreibt.
Kaum habe ich mit der Lektüre von «Kaltes Krematorium – Bericht aus dem Land namens Auschwitz» angefangen, schnürt sich mein Hals zu und mir wird zunehmend unwohl.
Kurz danach muss ich das Buch ein erstes Mal weglegen.
Dem ungarischen Dramatiker und Dichter József Debreczeni entgeht in seinem Werk nicht das kleinste Detail. Er hält den Schrecken in den Vernichtungslagern der Nazis unerbittlich fest.
Mehr als 70 Jahre nach dem Original in ungarischer Sprache ist seine Reportage über die Vernichtungslager der Nazis nun endlich auch in deutscher Sprache erschienen. Der Zeitpunkt könnte nicht besser gewählt sein.
«Entmutigt widmen wir uns wieder den Läusen. Wir haben das Gefühl, dass sich unsere letzte Chance in Luft aufgelöst hat. Die Sterbenden wollen wieder nicht mehr leben, lassen den Strohhalm des klaren Verstands los, gleiten zurück in die Bewusstlosigkeit. Hungertod, Wassersucht, Fleckenfieber ...»
József Debreczeni wird am 1. April 1944 als Jude nach Auschwitz deportiert. Es folgen zwölf albtraumhafte Monate in verschiedenen Konzentrationslagern. Seine letzte Station ist das «Kalte Krematorium», die Krankenbaracke des Zwangsarbeitslagers Dörnhau in der Nähe der südpolnischen Stadt Kolce.
Die vierteilige Serie war ein emotionaler Schock für mich. Ich kann mich noch gut daran erinnern. Beim Anschauen musste ich immer wieder weinen. Die TV-Serie zeigt trockene, unfassbare Fakten auf einer emotionalen, persönlichen Ebene.
Der Inhalt der Serie «Holocaust» war zwar Schulstoff. Ich hatte ihn aber während meiner Schulzeit, wie viele andere Jugendliche in der Schweiz in den 1970er Jahren auch, so nicht vermittelt bekommen.
Aktuell stehen wir an einem Wendepunkt in der Erinnerung an die Shoah, dem Völkermord an über sechs Millionen Juden während des Zweiten Weltkriegs, da die letzten Zeug*innen und Überlebenden in wenigen Jahren alle gestorben sein werden.
«Umso wichtiger ist es, dass eine Stimme wie die von József Debreczeni gehört wird», schreibt Publizistin Caroline Emcke im Nachwort von «Kaltes Krematorium».
Und weiter: «Für Debreczeni ist nichts nebensächlich, nichts zu entlegen, nichts tabu. Alles zählt. Alles, was zu sehen ist, zu riechen, zu hören, zu schmecken ... alles, was die Menschen einander angetan haben, alle Dinge, alle Objekte, die es brauchte, um einander zu quälen oder um zu überleben.»
Debreczeni hatte Glück – nur deshalb überlebte er
Überleben? Überleben! Nach der Lektüre des Buches von József Debreczeni ist für mich kaum vorstellbar, wie er die Todesmaschinerie in den Vernichtungslagern der Nazis überleben konnte.
Oder wie es der ungarische Schriftsteller, der 1978 in Belgrad gestorben ist, in «Kaltes Krematorium – Bericht aus dem Land namens Auschwitz» schreibt: «Im Lager erscheint einem der Tod wie ein erfrischendes Dampfbad.»
Debreczeni, er trug die Häftlings-Nummer 33031, hatte immer wieder Glück – nur deshalb überlebte er.
Kurz nach der Ankunft in Auschwitz bleibt er nach der Selektion in seiner Reihe, während andere Schicksalsgenossen die nahen Lastwagen besteigen. Ein augenscheinlich netter SS-Mann bot davor den Wechsel an.
Ein Häftling, der gleichzeitig einen Leichenwagen an den Lager-Neuankömmlingen vorbeizieht, brummt leise: «Hier bleiben! Nur zu Fuss!» Debreczeni entscheidet aus dem Bauch heraus, nicht einzusteigen. Wenig später erfährt er, dass die Passagiere der Lkws direkt ins Gas gefahren wurden.
«21825 liegt bereits nach dem dritten Hieb auf dem Boden. Zu Beginn schreit er wie ein Tier, hemmungslos, doch beim zwanzigsten ist es nur noch ein leises Winseln. Der einundzwanzigste, zweiundzwanzigste, fünfzigste trifft bereits eine reglose Masse. Der Lagerälteste gibt den Reinigungskräften ein Zeichen, drei von ihnen kommen und zerren das Opfer weg.»
Während der Lektüre des Buches überkommt mich immer wieder das Schaudern. Was auch damit zu tun hat, dass Debreczenis Bericht gleichzeitig «eine erstaunlich souveräne literarische Reportage des Schreckens» ist, wie es «Die Zeit» nennt.
In den Lagern sind «die Deutschen meist unsichtbar»
Es sind aber nicht nur die Nazi-Schergen, die in den Konzentrationslagern unterdrücken, prügeln, zerstören und töten. «Die Deutschen sind meist unsichtbar», beschreibt József Debreczeni den Tagesablauf.
Minderheit unterdrückt Minderheit – und wenn es auch nur der Kampf um ein trockenes Stück Brot ist oder eine etwas weniger dreckige Unterhose. Während der Lektüre des Buches erfährt man von «Sklaven, die Sklaven verprügeln».
Debreczenis Blick auf seine Schicksalsgenossen ist unerbittlich und wabert zwischen Mitgefühl, Wut und Hass. Der Autor offenbart die tödliche Hinterhältigkeit der Nazis, zu deren Strategie es gehört, das Regime innerhalb der Lagerbaracken von Häftlingen kontrollieren zu lassen.
«Vor allem diese Wahrheit scheint Debreczeni erzählen zu wollen, mit geradezu soziologischer Präzision», kommentiert «Die Zeit» diesen Umstand.
«Wer ist dein bester Mann?» – «46514!»
Am 6. Juni 1944, an dem Tag, als die Alliierten in der Normandie landen, wird József Debreczeni Zeuge eines furchtbaren Verbrechens: Ein SS-Hauptsturmführer besucht das Arbeitslager.
Der einarmige Nazi fragt einen Bewacher, auch er ein Häftling: «Wer ist dein bester Mann?» – «46514!», antwortet dieser. Sofort steigt der junge Mann mit der Nummer 46514 aus dem Graben, in dem er gearbeitet hat, zieht die Mütze vom Kopf und meldet sich untertänigst.
Der SS-Mann tritt neben den Mann, hält ihm einen Revolver an den Kopf und drückt ab. «Das war eine kleine Demonstration, um zu veranschaulichen, dass selbst der beste Jude krepieren muss», sagt der SS-Hauptsturmführer mit einem Lächeln im Gesicht.
«Viele Blutsauger, die das Lager verlassen haben, haben sie verfolgt und, da auch die Flüchtenden bewaffnet waren, im Feuergefecht niedergestreckt. Aus den Lagern, die nicht als Krankenhaus dienen, sind nahezu alle aufgebrochen. Wohin? Auf diese Frage gibt es nur eine Antwort: nach Hause!»
Das Zwangsarbeitslager Dörnhau, in dem József Debreczeni zuletzt untergebracht war, wird am 4. Mai 1945 von der Roten Armee befreit.
Die kursiven Textstellen sind Original-Zitate aus dem Buch «Kaltes Krematorium – Bericht aus dem Land namens Auschwitz» von József Debreczeni.
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