Grosser Diskussionsbedarf Sind tödliche Unfälle im Radsport überhaupt zu vermeiden?

Von Martin Abgottspon

20.6.2023

Der Unfallort von Gino Mäder ist inzwischen eine Gedenkstätte.
Der Unfallort von Gino Mäder ist inzwischen eine Gedenkstätte.
Keystone

Der Tod von Gino Mäder entfacht in der Radsport-Szene einmal mehr die Diskussion nach mehr Sicherheit. Doch das Streben danach kommt einer Illusion gleich.

Von Martin Abgottspon

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Gino Mäders Tod löst in der Radsport-Szene Diskussionen um die Sicherheit der Fahrer aus. 
  • Die Organisatoren und Fahrer vertreten dabei unterschiedliche Standpunkte. 
  • Die Verantwortlichen wollen in der Entscheidungsfindung nichts überstürzen.

Radrennen gelten als eine der gefährlichsten Sportarten überhaupt. Das hat der Tod von Gino Mäder am letzten Freitag einmal mehr schonungslos aufgezeigt. Doch der Schweizer ist bei Weitem nicht der einzige, der an den Folgen eines Unfalls gestorben ist. Seit 2003 haben mehr als ein Dutzend Radrennfahrer ihr Leben bei Rennen oder im Training verloren.

Man stellt sich die Frage nach zusätzlichen Sicherheitselementen, gleichzeitig aber auch jene, ob tödliche Unfälle im Radsport auch einfach unvermeidlich sind. «Leider ja», sagt Wolfgang Konrad in einem Interview mit dem «Standard». Konrad ist einer der Mitverantwortlichen für das Comeback der Österreich-Rundfahrt.

Trainings gefährlicher als Rennen

Wie die meisten Radsport-Fans war auch er geschockt von Mäders Tod. «Es ist eine schicksalhafte, furchtbare Tragödie. Der Radsport, die Sportwelt steht still, wenn so etwas passiert.» Dennoch zeichnet Konrad auch ein etwas differenzierteres Bild: «Man muss bedenken, wie viele Hunderttausend Rennkilometer jedes Jahr absolviert werden. Und man muss bedenken, wie viele schwere Stürze passieren, die dann dennoch oft glimpflich ausgehen.»

Ausserdem unterstreicht der Österreicher, dass die meisten tödlichen Unfälle eben nicht bei Rennen, sondern im Training passieren. Da spielen andere Verkehrsteilnehmer und die Tatsache mit, dass sie das Tempo von Radrennfahrern oft unterschätzen. Michele Scarponi, Giro-Gesamtsieger 2011, kam 2017 bei einer Kollision mit einem Kleintransporter in seiner Geburtsstadt Filottrano ums Leben. Sein nicht weniger berühmter Landsmann Davide Rebellin starb, als er wenige Wochen nach seinem Rücktritt bei einer Ausfahrt in seiner Heimat von einem Lkw überfahren wurde.

Gespaltene Meinungen bei Organisatoren und Fahrern

Radfahrer erreichen bei Abfahrten Geschwindigkeiten von über 100 km/h. Eine Geschwindigkeit, die im Vergleich zum Motorsport zwar gering erscheint, doch Konrad betont: «Die Radfahrer sitzen im Freien und sie haben keine Knautschzone.»

Abfahrten zu vermeiden oder Tempolimits einzuführen, ist aus Sicht von Konrad aber keine Lösung, weil diese auch zum Charakter des Radrennsports gehören. «Sie sind genauso Teil des Sports wie Bergankünfte, Sprintetappen und Zeitfahren. Das alles macht diesen Sport aus.»

Diese Meinung teilen viele Fahrer nicht. Unter anderem Strassenrad-Weltmeister Remco Evenepoel hatte nach dem Sturz Mäders auf der Königsetappe schwere Vorwürfe erhoben. «Ich hoffe, dass das heutige Finale der Etappe sowohl für die Organisatoren als auch für uns selbst als Fahrer ein Denkanstoss ist. Eine Bergankunft wäre problemlos möglich gewesen. Daher war es keine gute Entscheidung, uns die Etappe mit dieser gefährlichen Abfahrt beenden zu lassen», schrieb der Belgier bei Twitter.

Keine überstürzten Entscheide

Wie weiter also? Die Verantwortlichen wollen im Moment nichts überstürzen. Rolf Aldag, sportlicher Leiter beim deutschen Profiteam Bora-hansgrohe meint, man müsse «in Ruhe reflektieren: Was macht Sinn? Was ist zielgerichtet? Wie machen wir jetzt weiter? Da müssen Teams, Veranstalter und Sportler an einen Tisch. Da sollten wir uns aber Zeit nehmen, schnelle, boulevardeske Schlagzeilen haben noch keinem geholfen», so Aldag am Todestag von Mäder.

Die Kritik aus dem Fahrerlager am Streckenkurs wies der 54-Jährige zurück und rief zur Besonnenheit auf. «Nach so einem Sturz sind alle Beteiligten sehr emotional. Aus dem ersten Schock zu reagieren, macht aber überhaupt keinen Sinn», sagte Aldag: «Das schadet der Glaubwürdigkeit unseres Sports.»

Nach Mäders Tod zogen sich drei Teams und 17 weitere Fahrer von der Tour zurück. Die Tour, die mit dem Sieg des Dänen Mattias Skjelmose endete, wurde in Absprache mit Mäders Familie fortgesetzt. Es gab eine Schweigeminute und neutrale Abschnitte, und der Weltmeister Remco Evenepoel widmete seinen Solosieg dem verstorbenen Mäder: «Das war die beste Art und Weise, Gino zu ehren und seiner Familie Respekt zu zollen. Es ändert nichts, aber ich möchte, dass sie wissen, dass wir alle im Peloton, in unserer kleinen Welt, an sie denken.»

«Warum um Gottes Willen muss man solche Pässe einbauen?»

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Henri Gammenthaler, langjähriger Kommentator der Tour de Suisse, spricht mit blue News über die Folgen des tragischen Todes von Radfahrer Gino Mäder.

16.06.2023