Was haben Alain Rochat, Mathias Seger, Denise Feierabend, Martina Kocher und Matthias Sempach gemeinsam? Sie erklärten alle 2018 ihren Rücktritt vom Spitzensport. Bei blue News blicken sie zurück und erzählen, wie sie sich im Leben nach dem Sport zurechtgefunden haben.
Martina Kocher (36) war von 2003 - 2018 Weltcup-Rodlerin, 2016 wurde sie Weltmeisterin im Sprint und WM-Zweite im Einzel, 2017 WM-Zweite im Sprint, sie nahm an vier Olympischen Spielen (2006, 2010, 2014, 2018) teil.
Heute arbeitet sie als Pädagogin in einer offenen Einrichtung für Jugendliche.
«Eigentlich fiel mir der Rücktritt nicht schwer, emotional konnte ich mich gut darauf vorbereiten. Ich beschäftigte mich schon zwei Jahre zuvor mit dem Gedanken, doch als ich 2016 Weltmeisterin wurde, hatte ich dann doch noch grosse Lust weiterzumachen. Ich teilte mir die Einsätze dann jedoch selbst ein, hetzte nicht mehr jedem Weltcuprennen hinterher, sondern legte den Fokus auf die WM und die Olympischen Spiele und sah alles, was jetzt noch folgen wird, als Bonus an.
Entsprechend ging ich es gelassen und ohne Druck an. Mich interessierten eigentlich nur noch Medaillen an Grossanlässen, entweder funktioniert das – oder sonst eben nicht. Dass ich 2017 nochmals Vizeweltmeisterin wurde, war dann absolut cool.
Zu meinem letzten Rennen wurden dann die Olympischen Spiele in Pyeongchang. Das grosse Ziel war Gold, doch leider geschah mir im ersten Lauf ein Missgeschick. Mein Medaillentraum war innert wenigen Sekunden geplatzt und ich konnte fortan nur noch Schadensbegrenzung betreiben. Ja und danach war es dann vorbei.
Ich war froh, dass ich mich, auch mit meinem Sportpsychologen, so gut auf diesen Zeitpunkt des Rücktritts vorbereiten konnte, denn nach 24 Jahren im Sport ist es wirklich speziell, wenn man aufhört und der Lebensinhalt plötzlich ganz ein anderer wird.
«Zum ersten Mal seit der fünften Klasse war ich wieder einen ganzen Winter Zuhause»
Es war ein Entscheid, der von mir bewusst gefällt wurde, den ich so wollte. Deshalb kam auch keine Leere in mir auf, sondern eher Spannung hoch, was nun wohl folgen wird. Es galt viel Neues zu entdecken, denn zum ersten Mal seit der fünften Klasse war ich wieder einen ganzen Winter zu Hause und lebte nicht mehr ständig aus dem Koffer. Es war ein komplett anderes, fast neues Leben für mich.
Ich habe es genossen, dass es jetzt egal ist, ob ich nun um 23 Uhr oder auch mal um 1 Uhr morgens ins Bett gehe. Neuerdings, und das hat mir besonders gefallen, konnte ich essen, worauf ich gerade Lust hatte, wie beispielsweise an einem Abend auch mal nur einen Salat. Als Rodlerin musste ich nämlich immer darauf achten, genug schwer zu sein und ja nicht abzunehmen. Diese Futterei hat mich im Lauf der Zeit schon belastet.
Bereut habe ich meinen Rücktrittsentscheid nie. Im Gegenteil – mit den ganzen Covid-Einschränkungen und ohne Zuschauer zu starten, wäre nichts für mich gewesen. Ich war ein Wettkampftyp, der das Publikum brauchte.
Auch die häufigen Reibereien mit dem Schweizer Verband haben mich auf Dauer gestresst. Umso mehr begrüsste ich es in den letzten drei, vier Jahren meiner Karriere mit dem eigenen Team unterwegs zu sein. Das vermisse ich schon ein wenig, genauso wie die Geschwindigkeit und das Fahrgefühl beim Rodeln. Bisweilen denke ich schon, ich würde gerne noch einmal in Königssee oder in La Plagne den Eiskanal runterfahren, einfach um dieses einzigartige Feeling nochmals zu erleben.
Parallel zu meinem Sportlerleben habe ich ein Lehrer- und Sport-Studium absolviert. Dieser grosse Mehraufwand hat sich gelohnt, konnte ich doch nach meiner Rückkehr von den Olympischen Spielen in Pyeongchang sehr rasch einen verlockenden Job annehmen. Ich arbeite derzeit engagiert in einer offenen Einrichtung für Jugendliche.
«In den Grundzügen ist es in meinem Job nicht so viel anders wie zuvor als Rodlerin – ich muss mit brenzligen Situationen umgehen»
Dieser Job ist in den Grundzügen gar nicht so viel anders als mein Leben zuvor als Rodlerin, denn die dort erlangten Fähigkeiten kommen mir jetzt entgegen und ich kann sie erfolgreich einsetzen. In meinem Alltag ist immer viel Action, jede Woche ist anders, ich trage viel Verantwortung, muss mit brenzligen Situationen umgehen und jeder Schritt kann entscheidend sein. Es hängt von meinem Handeln ab, ob ich die Jungs im Griff habe oder nicht.
Ähnlich wie nach einem Trainingstag als Sportlerin, reflektiere ich als Pädagogin ständig, was gut war und was weniger, was ich optimieren und anders machen kann. Ich denke, mir hat diese actionreiche Arbeit meine Ablösung vom Sport enorm erleichtert. Vermutlich hätte ich in einem 0815-Job Mühe gehabt.
Vom Rodeln habe ich bewusst etwas Abstand genommen. An einer Bahn war ich bis jetzt nicht mehr, gelegentlich verfolge ich den Sport im Fernsehen. Ich kann mir jedoch durchaus vorstellen etwas im Sportbereich zu machen, um meine vielen Erfahrungen weiterzugeben. Die Idee wäre ein sportartenübergreifendes Projekt. Mit einigen ehemaligen Sportlern habe ich dies schon angedacht und diskutiert. Noch steht aber nichts Konkretes.
Absolute Priorität hat für mich derzeit meine jetzige Beschäftigung. Jedoch gilt für mich grundsätzlich: Die Tätigkeit muss herausfordernd sein und Action bieten.»