Voller Hürden und Vorurteile Simon ist der einzige EM-Journalist im Rollstuhl: «In Katar war es besser als in Deutschland»

Michael Wegmann und Ronja Zeller

1.7.2024

Als Journalist im Rollstuhl

Als Journalist im Rollstuhl

Simon Scheidegger ist seit 13 Jahren Journalist. Er sitzt im Rollstuhl und berichtet von der EM in Deutschland. Mit blue Sport spricht Scheidegger über seinen Job und die Herausforderungen, die bei einem Fussballturnier mit dem Rollstuhl einhergehen.

30.06.2024

Simon Scheidegger (33) ist an der EM in Deutschland der einzige Journalist im Rollstuhl. «Die Sportwelt ist nicht auf mich vorbereitet», sagt er im Gespräch mit blue Sport und erzählt von den Schwierigkeiten und Vorurteilen, die er täglich aus der Welt schaffen muss.

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M. Wegmann, R. Zeller

1.7.2024

Keine Zeit? blue Sport für dich zusammen

  • Während die Nati derzeit die EM in Deutschland aufmischt, leistet der Schweizer Sportjournalist Simon Scheidegger (33) abseits des Rasens wichtige Pionierarbeit. 
  • Scheidegger ist der einzige Journalist vor Ort im Rollstuhl. Im Gespräch mit blue Sport erzählt er, mit welchen Schwierigkeiten und Vorurteilen er als Gehbehinderter in und um den Stadien konfrontiert wird.
  • Es gebe Phasen, in welchen er es sich sogar überlegt habe, ob er seinen Job weiterhin ausüben wolle, weil er sich ganz oft in diesem Umfeld nicht akzeptiert fühle, gesteht Scheidegger.
  • Dabei liebt er seinen Beruf: «Mein Job besteht eigentlich aus den coolsten Sachen, die es gibt. Es geht um Sport und Emotionen, die ich gerne transportieren will.

Simon Scheidegger (33) redet gerne mit blue Sport über seine Erlebnisse und Erfahrungen an der EM in Deutschland. Seine einzige Bedingung: «Es soll weder eine Helden- noch eine Jammeri-Geschichte werden.»

Seit 13 Jahren ist Scheidegger Sportjournalist und lebt seinen Kindheitstraum. «Beni Thurnheer war immer mein grosses Vorbild, ich wollte immer nur Sportjournalist werden», sagt er zu blue Sport. 

In diesen Tagen berichtet er für Keystone SDA von der EM. So wie es tausende andere Fussballjournalisten aus der ganzen Welt tun – und doch so ganz anders. Denn Scheidegger ist seit Geburt gehbehindert und mit dem Rollstuhl unterwegs.

«Es ist eine ziemliche Herausforderung, hier meinen Job auszuüben», sagt er. «Eigentlich ist dies ja nichts Neues, da man auch in der Schweiz nicht auf Journalisten wie mich gewartet hat, aber hier in Deutschland ist es noch um einiges schwieriger. Das Ausmass hat mich schon überrascht.»

Wenn dir ein Security sagt, dass du hier nicht hingehörst … 

Da sind die zahlreichen infrastrukturelle Schwierigkeiten, die er zu überwinden hat. Auf dem Weg nach Gelsenkirchen zum Spiel Spanien gegen Italien kommt er mit der U-Bahn selbstständig gerade mal bis zur Endstation vor dem Stadion. Da es da keinen Lift gibt, muss er dort die Treppen hochgetragen werden.

Im Stadion in Köln heisst es, er könne sich entscheiden, wo er sitzen wolle. Variante A ist bei den Fotografen am Spielfeldrand, wo er nicht über die Banden sieht. Variante B ist inmitten der Fans auf den Rollstuhlplätzen. Die Journalistenplätze, wo alle seine Arbeitskollegen sitzen, sieht er nur von Weitem. 

In Frankfurt bei Schweiz gegen Deutschland versuchte man ihm dann auszureden, in die Mixed Zone zu gehen, um Interviews zu machen. «Die UEFA hat gemeint, die Absperrgitter wären zu hoch für mich.»

Andererseits muss er sich auch mit Vorurteilen herumschlagen. Da viele Menschen in ihm keinen Journalisten sehen. «Wenn dir zum Beispiel auf dem Weg in die Mixed Zone ein Sicherheitsverantwortlicher sagt, dass ich hier nicht hingehören würde. Viele Menschen rechnen nicht damit, dass man mal als Rollstuhlfahrer diesen Job ausrichten kann.»

«Habe das Gefühl, dass ich nicht ernst genommen werde»

Dabei hat er sein Kommen bei der UEFA bereits im April angekündigt und sich dabei auch über die Bedingungen in den Stadien erkundigt. Passiert ist seither nicht allzu viel. «Die Stewards, die sich um mich kümmern, sind zwar alle nett. An den Strukturen ändert dies aber nichts. Es war schon ernüchternd, als ich merkte, dass ich inmitten der Fans meine Arbeit machen musste, obwohl ich mich so früh informiert habe. Da hatte ich schon das Gefühl, dass ich nicht ernst genommen werde.»

Es gebe Phasen, in welchen er es sich sogar überlegt habe, ob er seinen Job weiterhin ausüben wolle, weil die Umstände derart ermüdend und anstrengend seien und weil er sich ganz oft in diesem Umfeld nicht akzeptiert fühle, gesteht Scheidegger. «Mein Job besteht eigentlich aus den coolsten Sachen, die es gibt. Es geht um Sport und Emotionen, die ich gerne transportieren will. Aber ich muss mich oft mit ganz vielen Dingen herumschlagen, die Energie brauchen. Es ist nicht immer einfach, mit dem umzugehen.»

«Habe mich noch nirgends so wohl gefühlt wie in Katar»

Er macht weiter. Weil er seinen Job liebt. Und weil er weiss, dass es auch anders geht: Die WM in Katar war für ihn ein Musterbeispiel. «Das war ein riesiger Unterschied. In Katar hat man nicht gemerkt, dass ich im Rollstuhl sitze. Ich hatte dieselben Wege wie alle anderen. Es gab überall Lifte, alles war signalisiert. Ich konnte zum Arbeiten bei meinen Kollegen sitzen. Ich habe mich wirklich noch selten bei meinem Job so wohlgefühlt wie dort. Hier in Deutschland bin ich ständig am Verhandeln.»

Und noch etwas anderes treibt Scheidegger an. «Ich merke, dass es offenbar auch in Deutschland noch nie jemanden gab, der diesen Job mit einer Gehbehinderung macht.» Gehts nach ihm, soll sich das künftig ändern. «Ich wünsche mir, dass in Zukunft Menschen mit Behinderung diesen Job ebenso gut ausüben können, wie Menschen ohne Behinderung. Ich sehe mich in einer Art Pionierrolle. Und ich hoffe, dass ich für jemanden sein kann, was Beni Thurnheer für mich war. Und dass diese Person dann nicht mehr die Hürden antrifft, die ich jetzt antreffe. Das Ziel ist, dass es überall Menschen gibt, mit Behinderung oder ohne Behinderung. Eine durchmischte Gesellschaft ist wichtig.»

Scheidegger leistet derzeit an der EM in Deutschland Pionierarbeit – und er tut das auf eine erfrischende Art. Ohne zu jammern und ohne heldenhaft zu wirken.