Verheerende Folgen für Europa Droht der Strömungskollaps im Atlantik?

dpa/toko

27.2.2024 - 21:56

Dass sich die sogenannte Atlantische Umwälzbewegung (abgekürzt Amoc für Atlantic Meridional Overturning Circulation) abschwächt, ist wenig bekannt.
Dass sich die sogenannte Atlantische Umwälzbewegung (abgekürzt Amoc für Atlantic Meridional Overturning Circulation) abschwächt, ist wenig bekannt.
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Ein Erliegen der Atlantik-Strömung würde die Welt grundlegend verändern. So warnen Forschende unter anderem vor eisigen Temperaturen in Teilen Europas. Doch wie realistisch ist dieses Horrorszenario?

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  • Die Atlantische Umwälzbewegung  könnte sich im Zuge des Klimawandels drastisch abschwächen — und damit in Teilen Europas für eisige Temperaturen sorgen.
  • Niederländische Forscher zeigten im Fachblatt «Science Advances» kürzlich, dass sie einen Zusammenbruch der Amoc auch in einem komplexeren Klimamodell unter bestimmten Bedingungen simulieren können.
  • Die Folgen wären den Analysen zufolge dramatisch: In manchen Städten Europas könnte die Jahresmitteltemperatur innerhalb von 100 Jahren je nach Region um einige bis zu 15 Grad fallen.

Einige besonders prominente Auswirkungen der Klimaerwärmung auf das Erdsystem können vermutlich die meisten Menschen aufzählen: So schmelzen die Polkappen und der Permafrostboden taut. Dass sich die sogenannte Atlantische Umwälzbewegung (abgekürzt Amoc für Atlantic Meridional Overturning Circulation) abschwächt, ist hingegen weit weniger bekannt. Dabei sind die vermuteten Folgen mindestens genauso bedrohlich.  

Besonders übel wäre die Situation, sollte dieses Strömungssystem im Atlantischen Ozean, zu dem auch der Golfstrom gehört, komplett zusammenbrechen. Fachleute sprechen von einem sogenannten Kipppunkt, die Amoc würde innerhalb weniger Jahrzehnte zum Erliegen kommen und sich auch unter günstigen Bedingungen nicht erholen. 

Intensive Diskussion in der Fachwelt

Grundsätzlich verlagert die Amoc – ganz grob gesagt – Wärme aus dem Süd- in den Nordatlantik und trägt so zu einem vergleichsweise milden Klima in West- und Nordeuropa bei. Ob und unter welchen Umständen dieses Strömungssystem kollabieren könnte, wird in der Fachwelt intensiv diskutiert. 

Allerdings mehren sich die Hinweise, dass dies sowohl möglich ist, als auch wahrscheinlicher wird. So zeigten niederländische Forscher im Fachblatt «Science Advances» kürzlich, dass sie einen Zusammenbruch der Amoc auch in einem komplexeren Klimamodell unter bestimmten Bedingungen simulieren können. Die Arbeit wurde von mehreren Fachleuten als solide eingestuft, es gab aber auch Kritik an bestimmten Annahmen der niederländischen Gruppe. 

Diese stellte auch eine Art Frühwarnsystem vor, dass den Forschern zufolge zeigt, dass sich die Nordatlantikströmung in Richtung eines Kipppunkts entwickelt. 

Ein Eisberg schwimmt bei Sonnenuntergang auf dem Meer vor Grönland: Die Folgen des Zusammenbruchs der Ozeanzirkulation hätte verheerende Folgen.
Ein Eisberg schwimmt bei Sonnenuntergang auf dem Meer vor Grönland: Die Folgen des Zusammenbruchs der Ozeanzirkulation hätte verheerende Folgen.
Felipe Dana/AP/dpa

Jahresmitteltemperatur könnte um bis zu 15 Grad fallen

Die Folgen wären den Analysen zufolge dramatisch: In manchen Städten Europas könnte die Jahresmitteltemperatur innerhalb von 100 Jahren je nach Region um einige bis zu 15 Grad fallen. Besonders stark sinke sie im Winter und im Nordwesten. So könnte es im norwegischen Bergen im Februar um mehr als drei Grad pro Jahrzehnt kälter werden. Die verheerenden Auswirkungen solcher rasanten und extremen Veränderungen auf Natur und Landwirtschaft kann man nur erahnen. 

In anderen Regionen könnte es eine beschleunigte Erwärmung geben. Für den Amazonas zeigt das Modell eine drastische Änderung der Niederschlagsmuster. «Ausserdem wird prognostiziert, dass durch den abrupten Zusammenbruch der Ozeanzirkulation der Meeresspiegel in Europa um 100 Zentimeter ansteigt», sagte Erstautor René van Westen von der Uni Utrecht laut Mitteilung.

Um die Auswirkungen der Klimakrise auf die Amoc nachvollziehen zu können, muss man sich das System etwas genauer anschauen. Es besteht – stark vereinfacht – aus zwei entgegengesetzten Strömungen. Warmes Wasser wird nahe der Oberfläche aus den südlichen Regionen des Atlantiks in den Norden transportiert. Dort kühlt es runter und sinkt in Polnähe ab. Als kalte Strömung fliesst es in der Tiefe wieder nach Süden.  

Treiber dieses System sind Dichteunterschiede des Wassers. Vereinfacht gesagt wird das Wasser in Polnähe besonders schwer, weil es kalt und salzig ist. Dadurch sinkt es in die Tiefe und sorgt dadurch für Dynamik.

Klimaerwärmung hat bremsende Wirkung

Die Klimaerwärmung hat auf dieses System aber Fachleuten zufolge eine bremsende Wirkung. Zum einen steigt die Temperatur des Oberflächenwassers im hohen Norden. Zum anderen macht der Eintrag von Süsswasser, beispielsweise von schmelzenden Eisschilden, das Wasser dort weniger salzig. Beide Phänomene senken die Wasserdichte des nördlichen Oberflächenwassers, also Folge wird der Antrieb der Amoc schwächer. Im schlimmsten Fall verstärkt sich das Geschehen immer mehr selbst, bis das Strömungssystem kollabiert.

Die Preisfrage ist, unter welchen Umständen ein solcher Zusammenbruch stattfinden könnte – und vor allem wann. Die Gruppe um van Westen gibt darauf – wie viele andere Fachleute – keine direkte Antwort. 

Anders dänische Forscher, die im Juli vergangenen Jahres im Fachblatt «Nature Communications» doch eine Vorhersage wagten. Demnach ergaben ihre Analysen, dass die Amoc mit grosser Wahrscheinlichkeit zwischen den Jahren 2025 und 2095 zusammenbricht. Die Antwort der Fachwelt kam prompt, die Studie wurde stark kritisiert. Viele Forschende hielten die Vorhersagen auch aus methodischen Gründen für nicht haltbar. 

Kritik: Unsicherheiten nicht ausreichend berücksichtigt

So kritisiert Niklas Boers von der TU München, der selbst intensiv zu einer Abschwächung der Amoc forscht, dass im dänischen Modell bestehende Unsicherheiten nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Die Arbeit mache viel zu vereinfachende Annahmen, um die zukünftige Entwicklung der Amoc allein aus historischen Daten vorherzusagen, sagte er der dpa. Andererseits schreiben die niederländischen Forscher um van Westen über die Erkenntnisse der dänischen Kollegen: «Ihre Schätzung des Kipppunkts könnte richtig sein.»

Auch Johanna Baehr, Leiterin Klimamodellierung am Institut für Meereskunde der Universität Hamburg, betont im Gespräch mit der dpa die Unsicherheiten einer Prognose: «Wir wissen nicht, ob und wann ein solcher Kollaps kommt, ob in 50, 100 oder 1000 Jahren». Baehr sagt aber mit Blick auf die niederländische Studie auch: «Die Möglichkeit eines Kollapses lässt sich nun nicht mehr völlig von der Hand weisen.» Aufgabe der Wissenschaft sei es nun, einen möglichen Zeitrahmen immer weiter einzugrenzen. 

Für Baehr ist weiterhin der sechste Sachstandsbericht des Weltklimarates (IPCC) das Mass der Dinge. Darin heisst es: Die Amoc werde im Laufe des 21. Jahrhunderts – unabhängig vom Klimaschutz-Szenario – sehr wahrscheinlich abnehmen. Zudem sei man sich relativ sicher (medium confidence), dass das nicht zu einem Kollaps vor dem Jahr 2100 führt. 

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Auch andere Systeme stehen vor unumkehrbaren Umwälzungen

Die Amoc ist nicht das einzige System, das als sogenanntes Kippelement diskutiert wird. Ende vergangenen Jahres stellte der «Global Tipping Points Report» fünf grosse Natursysteme heraus, die vor möglicherweise unumkehrbaren Umwälzungen stehen. Allerdings ist es im Einzelfall schwierig bis unmöglich, konkret zu benennen, wie nah ein Kippelement tatsächlich am Kollaps ist. Zu viele Komponenten spielen eine Rolle. 

Mit Blick auf die Amoc ist laut Boers unklar, wie viel zusätzliches Süsswasser bei einer bestimmten Erderwärmung tatsächlich in den nördlichen Atlantik kommen würde, sei es durch schmelzende Polkappen oder mehr Eintrag durch Flüsse und zusätzlichem Regen. Zudem spiele eine grosse Rolle, wo genau das Süsswasser eintritt. Andererseits gebe es die Sorge, dass die Modelle die Amoc als zu stabil darstellen. Die Strömung sei momentan so schwach wie nie zuvor in den vergangenen 1000 Jahren. 

Für Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) muss das Risiko eines Kollapses um jeden Preis gemindert werden. «Die Frage ist nicht, ob wir sicher sind, dass dies passieren wird. Das Problem ist, dass wir es zu 99,9 Prozent ausschliessen müssen», schreibt er in einem Blogeintrag. Sobald es ein eindeutiges Warnsignal gebe, sei es zu spät, um noch etwas dagegen zu tun.

dpa/toko