Interview «Die Digitalisierung ist die grösste Revolution, seit wir sesshaft sind»

Von Gil Bieler

12.8.2019

Gehirn oder Chip, wer ist überlegen? Die künstliche Intelligenz macht rasante Fortschritte. 
Gehirn oder Chip, wer ist überlegen? Die künstliche Intelligenz macht rasante Fortschritte. 
Bild: Keystone/APA

Künstliche Intelligenz ist dabei, unsere Gesellschaft umzukrempeln – in einem Ausmass, das selbst Experten überfordert. Informatik-Professor Joachim Buhmann über Poker-Bots, smarte Autos und gläserne Bürger. 

Die Zukunft hat längst begonnen. Migrolino prüft 24-Stunden-Shops ohne Personal, in denen Kunden per Gesichterkennung identifiziert werden. In Neuhausen am Rheinfall kollidierte diesen Sommer ein selbstfahrender Bus mit einer E-Bike-Fahrerin – es war der schweizweit erste Unfall mit einem autonomen Gefährt, bei dem eine Person verletzt wurde. Und dann ist da noch die Arbeitswelt: Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Europa (OECD) glaubt, dass 14 Prozent aller Stellen im OECD-Raum stark von Automatisierung bedroht sind. Also jeder siebte Job. 

Der technologische Fortschritt geht in hohem Tempo voran, Schlagworte wie Künstliche Intelligenz (KI) und maschinelles Lernen sind in aller Munde – doch was soll man darunter genau verstehen? «Bluewin» bat Joachim Buhmann, Professor für Informatik an der ETH Zürich, um Klärung. 

Professor Buhmann, ab wann ist eine Software eigentlich intelligent?

Ich glaube nicht, dass es dafür eine allgemein gültige Definition gibt. Generell gesagt, geht es bei Künstlicher Intelligenz (KI) um die Automatisierung von intelligentem Verhalten des Menschen – wobei man diskutieren kann, was man als intelligent ansieht und was nicht. Nehmen Sie zum Beispiel Go, ein besonders in Asien verbreitetes strategisches Brettspiel. Maschinen beherrschen das heute besser als der Mensch. Und das geht ja noch weiter: Das Programm AlphaZero brachte sich Go ganz ohne Trainingsspiele gegen Menschen bei und wurde besser als alle anderen Go-Programme und lebenden Go-Spieler. Ist das Intelligenz? Viele würden sagen: Ja!

Es spricht ja auch wenig dagegen, oder?

Nur hat die Menschheit bisher immer angefangen, Intelligenz umzudefinieren, wenn etwas automatisiert erledigt werden konnte. Ob das jetzt die Datenverarbeitung im Büro war oder viele andere Dinge. Sicherlich werden wir auch das Autofahren eines Tages als nicht-intelligente Tätigkeit deklarieren, wenn erst einmal die ersten vollständig autonomen Autos oder Lastwagen im Einsatz stehen.



Muss eine intelligente Software selbstständig dazulernen können?

Nein. Wenn ein System allein dazulernen kann, bedeutet das lediglich, dass hier maschinelles Lernen betrieben wird. Das ist aber nur ein Aspekt im Themenbereich künstliche Intelligenz. Aber natürlich ist dieses maschinelle Lernen die Haupttriebfeder der heutigen Begeisterung für künstliche Intelligenz, weil es sich in vielen Bereichen als schwierig bis unmöglich herausgestellt hat, intelligente Systeme von Grund auf zu programmieren. Zum Beispiel bei den sogenannten Expertensystemen.

Was hat es damit auf sich?

In den Siebziger- und Achtzigerjahren waren diese Programme der grosse Renner. Alle dachten, wenn man genügend Regeln in solche Programme einbaut, dann könnten wir immer eine Regel finden bzw. ableiten, die auf eine bestimmte Lebenssituation passt. Und auf diese Weise könne man intelligent Probleme lösen. Das hat sich aber zum Beispiel in der Medizin nicht annähernd im erwünschten Masse bewährt. Denn dabei tauchte ein entscheidendes Problem auf: das sogenannte Knowledge Engineering. Wie bekomme ich das Wissen aus den Köpfen der Experten heraus und in die Programme hinein? Das hat man bis heute nicht effizient lösen können.

Und mit Machine Learning ist man diesbezüglich weitergekommen?

Die meisten Machine-Learning-Ansätze ziehen ihr «Wissen» primär aus der Beobachtung menschlicher Entscheidungen. Es wird kein Programmierer gebraucht, der Expertenwissen in Programmcode übersetzt. Diese Programme lernen aus Daten und können dann anstelle des Menschen in einem Entscheidungsprozess eingesetzt werden. Damit haben wir einen wesentlichen Teil von künstlicher Intelligenz umgesetzt. Gleichzeitig umfasst künstliche Intelligenz aber viel mehr als reines maschinelles Lernen. Wirklich künstliche Intelligenz ist fähig zu planen und kontrafaktisch zu denken – das heisst über Fragen nachzudenken wie: Was wäre, wenn ...?

Joachim Buhmann ...
... ist Professor für Informatik an der ETH Zürich.

zVG

In der Arbeitswelt ist KI ebenfalls vermehrt ein Thema. Laut «NZZ am Sonntag» gingen in der Schweiz 150'000 Sachbearbeiter-Jobs innert 20 Jahren verloren. Lohnt sich eine KV-Lehre überhaupt noch, wenn die Maschinen da schon so fit sind?

Ach, die Maschinen sind ja noch gar nicht so fit. Eine gute Chefsekretärin zum Beispiel ist in der Regel in der Lage, für ihren Vorgesetzten Briefe aufzusetzen – und zwar so, dass der Empfänger kaum unterscheiden kann, wer von beiden das geschrieben hat. Kann man das automatisieren? Bis jetzt nicht. Zumindest nicht auf der gewünschten Qualitätsstufe. Geht es dagegen um ein Handbuch für ein Programm, das eine Firma vertreibt: Solche Dokumente kann man heute schon automatisiert in Text fassen beziehungsweise übersetzen lassen. Es kommt immer darauf an, in welcher Qualität wir eine Serviceleistung brauchen.

Dann glauben Sie also nicht, dass es nun eine Beschleunigung bei dieser Entwicklung gibt?

Ich glaube, dass sich verschiedene Berufsfelder drastisch verändern werden, weil ein Teil des Berufsfeldes einfach wegfällt – der wird automatisiert. Schauen Sie sich zum Beispiel die Reisebranche an. Wie viele Jobs in Reisebüros sind durch Reiseportale wie Booking.com und ähnliche Anbieter weggefallen? Die Leute können sich heute online selber ein Zimmer suchen. Und vor allem können Sie das in Ruhe auf ihrem eigenen PC tun, anstatt sich das von einer Fachkraft erklären zu lassen, die vielleicht sogar auf dieselben Daten zugreift.



Welche anderen Tätigkeitsfelder werden von der Automatisierung besonders betroffen sein?

Fehlerkorrekturen in Texten zum Beispiel. Es wird bald Programme geben, die das erledigen. Und bei typischen Auswahlprozessen, wo ich mich als Kunde entscheiden muss, wird es mir sehr stark helfen, wenn ein Filter mir die Informationsflut vorsortiert. All das sind Dinge, da benötige ich heute keinen Vermittler mehr. Und man könnte auch vermuten, dass die Jobs von Rechtsanwälten in der Rechtsberatung betroffen sind. Denn was machen die? Sie wenden Gesetze, also Regelwerke, auf meine Lebenslage an und erklären, welche rechtlichen Konsequenzen aus diesen Regeln folgen. Ich glaube, dass man davon einiges automatisieren können wird. Vor allem, wenn viel Textverständnis und Lesen anfällt. Darin sind Maschinen einfach viel schneller, und viele können Texte heute schon semantisch genauso gut erfassen wie ein Mensch.

Das sieht man ja zum Beispiel schon, wenn man im Browser eine fremdsprachige Website übersetzen lässt. Da kommt ja ein flüssiger Text heraus.

Eben! Da ist die Qualität ja mittlerweile weit von Analphabetentum entfernt. Das ist alles verständlich.

Sie haben vorhin AlphaZero erwähnt, vor einiger Zeit hat auch Pluribus für Aufsehen gesorgt: Eine Poker-Software, die Profispieler geschlagen hat. Sind solche Projekte mehr als nur Spielereien der Entwickler?

Das ist sicher ein Entwicklungsschritt, um das Anwendungsspektrum des maschinellen Lernens zu erweitern. Was heute schon gut funktioniert, sind Eingabe-/Ausgabebeziehungen. Zum Beispiel hat man gewisse Messungen bei einem Patienten vorgenommen – Biopsien, Blutwerte etc. – und dann wird das auf eine Diagnose abgebildet. Doch das geht zum Beispiel beim Pokerspielen nicht. Beim Poker, genau wie beim Go, brauche ich ein Gegenüber als Mitspieler. Beim Go-Spielen wurde dieser Lehrer nun durch den Computer ersetzt. Es spielen also zwei Programme im Computer gegeneinander, und jedes nutzt den anderen als Lehrer, um selber Fortschritte zu machen. Das ist eine der Arten, damit die Programme mit wenig Überwachungsfunktion ein intelligentes Verhalten – in diesem Fall eine Spielstrategie –, erlernen.



Ist denn autonomes Fahren im Vergleich wesentlich schwieriger zu erlernen?

Das halte ich für deutlich komplexer, ja. Es herrscht Unsicherheit bei der Dateneingabe. Schlechtes Wetter zum Beispiel führt zu einem schlechten Bild. Und bei Nacht werden Sie geblendet von entgegenkommenden Fahrzeugen. Da existiert eine hohe Variabilität in den Beobachtungen, auf deren Basis ja der Lenk- und Fahrvorgang gesteuert werden soll. Und diese hohe Variabilität der Umwelt haben Sie bei Pokerspielen zum Beispiel nicht.

China baut ein System auf, das die lückenlose Überwachung des Bürgers ermöglichen soll. Verstehen Sie, dass da auch Sorgen aufkommen bezüglich des technologischen Fortschrittes?

Ich kann diese Sorgen sehr gut nachvollziehen. Aber dazu möchte ich auch anmerken: Die chinesische Bevölkerung ist grösser als die gesamte europäische Bevölkerung. Und mit unserem westlichen Verständnis von Freiheit, Demokratie, Organisation und so weiter verkennen wir vielleicht, was für Problemkomplexe dahinterstecken, wenn man solche Menschenmengen organisieren muss. Dass es da gelegentlich zu Entscheidungsprozessen kommt, die vielleicht die Freiheit gegenüber der Effizienz der Organisation aufwiegen, das kann ich ebenfalls verstehen. Und die chinesische Gesellschaft hat ein anderes Gesellschaftsbild als das westliche Weltbild.

Aber die Idee eines Social Rankings, einer Art Punktesystems für erwünschtes Verhalten, ist schon beängstigend.

Man muss sich natürlich schon die Frage stellen: Will man in einer Gesellschaft mit Social Rankings leben? Man kann aber die Frage auch andersherum stellen: Wie lange können wir es uns noch leisten, ohne Social Ranking all das mitzutragen, was manche als ihre persönliche Freiheit betrachten, zum Beispiel gesundheitsschädliches Verhalten, Umweltsünden und so weiter.



Wie meinen Sie das?

Schauen Sie sich das Gesundheitswesen an: Wir können schon heute technisch viel mehr, als wir uns finanziell leisten können. Wir fangen das aktuell damit auf, indem wir die Prämien laufend erhöhen. Das ist nichts, was unbegrenzt weitergehen kann. Das heisst, der technische Fortschritt wird uns immer stärker erlauben, Produkte und Dienstleistungen anzubieten, die wir uns nicht leisten können. Dann stellt sich die Frage: Soll das für alle verboten werden? Oder können wir eine Situation ertragen, in der manche Zeitgenossen diese Dienstleistungen beanspruchen können und andere eben nicht. All diese Fragen sind gesellschaftspolitisch brisant – und vor allen Dingen durch digitalen Fortschritt entstanden.



Das sind überraschend philosophische Fragen in Zusammenhang mit KI.

Sehen Sie, die Digitalisierung hat für unsere Gesellschaft wahrscheinlich die gleiche Bedeutung wie das Sesshaftwerden des Menschen. Das ist nicht vergleichbar mit der Erfindung der Automobils, sondern eine ganz andere Dimension. Das sieht man schon daran, wie sich das Leben der einzelnen Menschen noch innerhalb ihrer Lebenszeit verändert hat. Das Auto wurde Ende des 19. Jahrhunderts erfunden, doch es hat erst drei Generationen später den Mainstream erreicht. Der Buchdruck brauchte dafür zwei Jahrhunderte. Soziale Netzwerke dagegen kamen innerhalb einer halben Generation auf!

Vor 30 Jahren hätte doch niemand gedacht, dass sich heute 40 Prozent der Schweizer nicht mehr in einer Bar oder auf einem Fest kennenlernen, sondern auf einer Website. Das sind Revolutionen, die unser direktes persönliches Zusammenleben massiv verändern. Ich bin hilflos, diesen Einfluss in Gänze zu begreifen, weil ich nicht einmal weiss, was der Referenzpunkt sein sollte. Da muss man schon sehr weit in der Geschichte zurückblicken.



Und mit Blick in die Zukunft: Was ist für Sie die spannendste Frage aus diesem umfassenden Themenfeld?

Eines der grössten Probleme ist: Wie bringe ich die Maschinen dazu, das zu tun, was ich möchte? In Zukunft wird immer seltener ein Mensch diesen Lernvorgang  überwachen, sondern die Maschine wird selber nach einer Lösung im Sinne des Menschen suchen. Das ist ja genau maschinelles Lernen. Darin sehe ich die grösste Herausforderung. Im Wesentlichen sollten sich Algorithmen selber einschätzen können, und sie sollten in der Lage sein, die Qualität ihrer Entscheidungen selber zu bewerten. Dann braucht der Mensch gar nicht mehr als Programmierer aufzutreten, sondern die Computer können sich selber programmieren.



Wie gut ist eigentlich die Schweiz in Sachen KI aufgestellt?

Die Schweiz ist in einer sehr guten Position. Wegen ihrer Geschichte, ihres basisdemokratischen Grundverständnisses und des Vertrauens, das ihr im Rest der Welt entgegengebracht wird. Es gibt den Vorschlag, dass die Schweiz eine Art Datenbank der Welt werden sollte, denn Privatsphäre ist hier sicherlich besser geschützt als etwa in China oder den USA. Früher haben die Leute den Schweizern ihr Geld anvertraut – und heute muss man seine Daten vor ungerechtfertigtem Zugriff und die Privatsphäre schützen.

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