Gute Bürger - schlechte Bürger Digitale Überwachung: China schafft den «besseren Menschen»

von Andreas Landwehr (Text) und Aurelien Foucault (Fotos), dpa

2.3.2018

Gute Bürger - schlechte Bürger: In China soll bis 2020 ein Punktesystem zur Bewertung der Menschen eingeführt werden. Die Noten entscheiden, ob jemand einen Job bekommt oder mit dem Flugzeug reisen darf. In Rongcheng testen die Behörden das System - und viele Leute finden es richtig gut.

Yu Ganqing ist genervt, dass er heute ins Bürgeramt muss. Seine Arbeit unterbrechen, Dinge liegenlassen. Aber anders geht es nicht. Yu Ganqing benötigt eine Bescheinigung über seine «soziale Vertrauenswürdigkeit». Das Führungszeugnis muss sich der 30-Jährige auf dem Bürgeramt in Rongcheng ausdrucken lassen. Es enthält einen Punktestand. Diese Benotung errechnen die Behörden mit einem weltweit beispiellosen Sozialkredit-System, das die kommunistische Führung bis 2020 in ganz China einführen will. Es trennt zwischen guten und schlechten Bürgern. «Ich brauche das Papier, um den Kredit für eine Wohnung zu beantragen», sagt der Angestellte.

Die ostchinesische Küstenstadt am Gelben Meer wirbt mit dem Spruch «Atme frei, fühl dich frei in Rongcheng». Sie ist ein Winterparadies für Schwäne. Seit gut zwei Jahren gehört der Ort in der Provinz Shandong zu den Vorreitern von über 40 Pilotprojekten für das Register. Der Zentralcomputer sammelt Daten von 50 Behörden. Er vergibt Pluspunkte für gewolltes Verhalten. Und er zieht Punkte ab, wenn Menschen irgendwie abweichen und gegen Regeln verstossen.

Wie Big Brother in George Orwells Roman «1984» greift die Kommunistische Partei unter Staats- und Parteichef Xi Jinping damit tief in die Privatsphäre der Menschen ein. Das Ziel: «Die Vertrauenswürdigen sollen frei unter dem Himmel umherziehen können, während es den in Verruf geratenen schwer gemacht wird, einen einzigen Schritt zu tun.» So steht es im Regierungsplan für die Einführung des Sozialregisters.

Die Kontrolle des Milliardenvolkes mit digitalen Mitteln und die Allmacht des Präsidenten Xi Jinping - das seien zwei Säulen einer «neuen Form des Totalitarismus», warnen Kritiker. Denn der 64-Jährige soll nach einer Verfassungsänderung bis ans Lebensende im Amt bleiben können. Manche erinnern deshalb an alte Zeiten, als Staatsgründer Mao Tsetung uneingeschränkt herrschte und China ins Chaos stürzte.

1000 Punkte - ein guter Bürger

«Dem Volke dienen», dieser Propaganda-Spruch aus Maos Tagen steht auf einer Marmorwand des Bürgeramtes von Rongcheng. Yu Ganqing wartet in der hohen, offenen Halle umgeben von Säulen und Computern. Die Beamtin am Schalter sucht seinen Namen im Computer und druckt den Nachweis aus: 1000 Punkte. Stufe A. Das bedeutet: Er ist ein «guter Bürger», hat sich nichts zuschulden kommen lassen.

Yu Ganqing hat nicht gegen die Strassenverkehrsordnung verstossen. Er zahlt seine Rechnungen. Politisch ist er nicht aufgefallen. So muss er auch nicht fürchten, im Punktesystem nach unten zu rutschen. «Da ich verheiratet bin, muss ich auch den Bewertungsbogen für meine Frau ausdrucken lassen.» Sonst gibt es kein Darlehen.

«Es macht zusätzlich Arbeit», klagt Yu Ganqing. Aber das Register stellt er nicht in Frage. Ob es die Leute besser macht? «Ich weiss es nicht. Vielleicht», sagt der 30-Jährige, greift seine Papiere und eilt davon.

Lange galt das Internet als Gefahr für Diktaturen, weil Menschen sich breit informieren und sich zusammentun könnten. Doch Chinas Führer nutzen inzwischen die Datenmassen - Big Data - zur Überwachung. Mehr noch. Mit den neuen digitalen Möglichkeiten sollen die Menschen erzogen werden. «Es ist zweifellos das ehrgeizigste orwellsche Vorhaben der Menschheitsgeschichte», sagt Sebastian Heilmann, Direktor des China-Instituts Merics in Berlin.

«Es ermutigt, Gutes zu tun»

Viele Menschen in Rongcheng betonen dagegen die Vorteile. So beurteilt die Krankenhausangestellte Lu Qunying das System positiv. «Es ermutigt, Gutes zu tun», sagt sie, während sie im Bürgeramt steht. «Wir brauchen Vorschriften oder ein System, um die Menschen zu überwachen.» Gerade weil China noch nicht so weit entwickelt sei. Überhaupt: «Die Stadt ist jetzt sauberer.»

Dabei hat die kommunistische Volksrepublik keine guten Erfahrungen mit solchen gesellschaftlichen Experimenten gemacht. Die Gesinnungsschnüffelei der Kulturrevolution (1966-76), als Mao Tsetung das Denken der Chinesen verändern wollte, endete im Chaos. Auch die Ein-Kind-Politik, die die Zahl der Kinder vorschrieb, entpuppte sich als Irrweg: Die Gesellschaft überaltert. Zu wenig Junge müssen zu viele Alte versorgen. Vor zwei Jahren wurde die Politik abgeschafft.

Das Sozialpunkte-System ist das neue Herrschaftsinstrument. Es soll den Ein-Parteien-Staat erhalten und «gute» Untertanen formen. Ohnehin trauen sich in der «neuen Ära» von Xi Jinping immer weniger, Kritik zu äussern.

Viele finden das Register auch gar nicht so ungewöhnlich. Warum? Die Antworten liegen in Chinas Geschichte. Schon das konfuzianische Staatsmodell kümmerte sich um Tugendhaftigkeit. Als der Kommunismus kam, führten «Arbeitseinheiten» (Danwei) eine Personalakte für jeden Genossen. Die «Dang'an» enthielt Werdegang, Bewertungen von Vorgesetzten, politische Haltung, Regelverstösse und auch private Informationen. Die Akte begleitete Menschen ihr Leben lang, war quasi Vorläufer des Sozialkredit-Systems.

Hilfe für alte Eltern gibt Pluspunkte

Einzelne Nachbarschaften in Rongcheng sind sogar noch ehrgeiziger als das städtische System. Im Dorf Daxunjiangjia wird zusätzlich benotet, ob Nachbarn streiten. Und wie Kinder ihre alten Eltern unterstützen.

Herr Mu Hongqing zum Beispiel wird mit Foto auf einer rot umrahmten Tafel an der Aussenwand des Dorfkomitees lobend erwähnt: «Er besucht immer seine Eltern, respektiert die Nachbarschaft, hilft anderen, hält Versprechen, gehorcht dem Dorfkomitee.»

Eine zweite Liste lässt alle wissen, wie Kinder ihren Eltern unter die Arme greifen: Neben den Namen stehen die Geldbeträge, aber auch Waren wie Speiseöl. Gelobt wird, wenn sie Arztrechnungen bezahlen und häufig zu Besuch kommen.

Dorfbewohner und Bauer Mu Linming ist begeistert: «Es zeigt, wer gut ist und wer nicht.» Der 62-Jährige mit dem einladenden Lächeln bittet in sein Haus, schenkt den Besuchern Äpfel und Erdnüsse. «Unser Dorf war immer gut», sagt der frühere Bauarbeiter. «Aber nach Einführung des Systems ist es noch besser geworden.»

Alle Bürger über 18 Jahre - mehr als 600'000 Einwohner und 140'000 Zugezogene - sind in Rongcheng erfasst, berichtete He Junning, Direktor der «Sozialkredit-Verwaltung». Jeder startet mit 1000 Punkten. Das ist Stufe A. Die Behörden liefern Informationen über Verkehrsdelikte, Festnahmen, Spenden und Freiwilligenarbeit. Sein Sozialkreditamt hat acht Mitarbeiter. Ihre Aufgabe: «Wir beschäftigen uns mit der Prüfung und Genehmigung der Informationen für die Kreditpunkte, die uns lokale Stellen liefern.»

Schwiegersohn-TÜV

Wer 1000 Yuan für einen guten Zweck spendet, bekommt 5 Punkte. Wem die Stadt eine Auszeichnung verleiht, erhält 30. Bei 1300 Punkten ist der Höchststand AAA erreicht. Dann gibt es Ermässigungen bei Heizungs- oder Wasserrechnungen. AAA-Bürger müssen keine Kaution für Leihfahrräder und in der Bücherei hinterlegen. Will ein Beamter befördert werden, braucht er viele Punkte. Firmen lassen sich bei Einstellungen die Punkte zeigen. Auch manche Eltern wollen wissen, wo der Verlobte der Tochter denn so steht: Schwiegersohn-TÜV.

In Deutschland gibt es etwa die Schufa, die über die finanzielle Kreditwürdigkeit Auskunft erteilt. In China sollen nicht allein die finanzielle, sondern auch die private, polizeiliche, politische und moralische Vorgeschichte in dieser «Sozial-Schufa» zusammenfliessen.

Ein einfacher Verkehrsverstoss kostet fünf Punkte. «Wer betrunken Auto fährt, fällt direkt auf Stufe C», sagt Direktor He. Das sind 600 bis 859 Punkte. Darunter gibt es nur noch Stufe D. So jemand findet schwerer Jobs und wird nicht befördert.

Wenn das Register im ganzen Land eingeführt worden ist, sind noch weitere Strafregelungen denkbar. So gibt es schwarze Listen mit Millionen von Chinesen, die mit Gerichten oder Behörden in Konflikt geraten sind. Sie können schon heute zum Beispiel keine Flüge buchen.

Nicht nur Justizdaten fliessen bereits heute ein, auch Banken kooperieren mit dem Sozialkredit-System. Ähnliches gilt für Internetkonzerne wie Alibaba: Keiner sammelt in China mehr Daten über seine Kunden als der Kreditarm Sesam (Zhima) der weltgrössten Handelsplattform. Das Sozialkreditamt in Rongcheng habe eine Zusammenarbeit mit Alibaba vereinbart, berichtet Direktor He. «Was genau an Daten ausgetauscht werden soll, wird noch verhandelt.»

Die Kooperationsvereinbarung zeigt, dass sich der Staat beim Sozialkredit-System auch auf die Datensammelwut der Internetriesen stützen will. Kritiker empfinden das Sesam-Kreditsystem von Alibaba aber als problematisch. Mit einem undurchsichtigen Algorithmus bewerte es nicht nur den Umgang der Kunden mit Geld und ihre Spielvorlieben, sondern stütze sich auch auf die Kreditwürdigkeit der persönlichen Kontakte im Adressbuch.

Kontrolle durch digitalen Wandel

Mit seinen mehr als 770 Millionen Internetnutzern bietet China einen gewaltigen Datenpool. Rund eine halbe Milliarde Chinesen bezahlt heute schon bargeldlos mit dem Handy - am Marktstand, in Restaurants und beim Stromversorger. Die grosse Mehrheit ist auf der Allzweckplattform WeChat des Konzerns Tencent unterwegs. Im nächsten Jahr können sich Nutzer über WeChat sogar ausweisen: mit einem elektronischen Personalausweis.

Der digitale Wandel bringt Big Data und Big Brother zusammen. Nicht nur in China, sondern auch andernorts. In der Welt von Google, Facebook, Amazon, Baidu und Alibaba wird das Online-Verhalten der Nutzer verfolgt und vorhergesagt. Skeptiker warnen, dass auch andere Staaten der Versuchung nicht widerstehen könnten, Chinas Beispiel zu folgen und die Herrschaft digital durch Kontrolle abzusichern.

So schaut sich die Verwaltung der Nachbarschaft «Morgenröte» auf der anderen Strasse des Sozialkreditamtes von Rongcheng schon die Aktivitäten ihrer 12'000 Bewohner auf sozialen Medien genau an. Auf einer Schautafel wird vor kritischen Äusserungen online gewarnt. Wenn jemand «im Internet Gerüchte verbreitet oder andere verleumdet», könne die Familie nicht mehr als «zivilisiert» eingestuft werden.

Dass Äusserungen in sozialen Medien benotet werden, ist Herrn Chen neu. Er ist Unternehmer, hat zwei Kinder und wohnt seit zehn Jahren in dem Viertel. «Ich denke, dass das System die einfachen Menschen nicht zu sehr betrifft», meint der 32-Jährige. «Aber ich habe das Gefühl, dass sich das Benehmen der Leute im letzten halben Jahr verbessert hat.» Viele Autofahrer stoppten endlich am Zebrastreifen.

Er ist zurückhaltend, mit einem ausländischen Journalisten über das System zu sprechen, betont aber, er sei nicht beunruhigt. «Ich tue ja nichts Schlechtes.» Ob das nicht zu viel Schnüffelei wird? «Haben wir denn überhaupt noch eine Privatsphäre?», fragt er zurück. Auch seine Firma, die Sicherheitssysteme für Gebäude anbietet, ist erfasst. Denn nicht nur Privatleute, sondern auch Unternehmen werden bewertet. Um öffentliche Aufträge zu erhalten, muss er den Punkteauszug vorlegen.

«Anstand geht die Regierung nichts an»

Frau Xia hat gerade im Supermarkt eingekauft, will mit dem Auto nach Hause fahren. Etwas nervös hält sie ihre Einkaufstüte. Sie fühlt sich erkennbar unwohl, befragt zu werden. «Ich finde das System gut», sagt die 38-jährige Angestellte. «Es zügelt die Menschen, so dass sich ihr Benehmen verbessert.» Ihren eigenen Punktestand kennt sie nicht. Sie hat aber gehört, dass der Chef ihres Unternehmens viele Punkte hat. «Ich vermute, dass er Grosses leistet.»

Also, wie lässt sich Gutes tun und der Punktestand verbessern? Dafür ist Frau Ju Junfang, Vizedirektorin des Freiwilligenzentrums, zuständig. «Viele Leute kommen zu uns und leisten Freiwilligenarbeit - hohe Beamte wie einfache Leute.» Für 30 Stunden Arbeit gibt es 5 Punkte, für 60 Stunden 10.

Eine Gesellschaft brauche Regeln, argumentiert eine Dame vor dem Supermarkt. «Sonst gibt es ein Durcheinander.» Dass der Punktestand der Eltern irgendwann beeinflussen könnte, auf welche Schule die Kinder gehen dürfen, wie Kritiker warnen, fände sie allerdings nicht richtig. Aber dass Eltern dann eventuell mehr für die Schule bezahlen müssten, wäre «schon gerecht».

Das System habe viel erreicht, findet die Frau. Das Viertel «Morgenröte» habe einen guten Ruf. Ihre Wohnungen stiegen im Wert. «Ich hoffe, dass dieses System gefördert und ausgebaut wird, um jeden zu beobachten.» Um ihre Privatsphäre sorgt sie sich nicht. «Ich vertraue der Regierung. Wem könnte ich noch trauen, wenn ich der Regierung nicht mehr trauen kann?»

Soviel Gehorsam ist dem Schriftsteller Murong Xuecun nicht geheuer. «Je mehr Macht die Regierung besitzt, umso gefährlicher ist es für die Rechte der Bürger», warnt der Kommentator, der in den Augen der chinesischen Führung sicher nicht zu den «guten» Untertanen zählt. Sein Blog hatte mehr als eine Million Leser, als ihn die Behörden wegen seiner kritischen Äusserungen sperrten.

Ob jemand mit seinem Hund Gassi gehe oder seine Eltern besuche, dürfe nicht bewertet werden. «Anstand geht die Regierung nichts an», sagt der Autor. Es sei die totale Überwachung. «Wenn du eines Tages etwas schreibst, was der Regierung nicht gefällt, kriegst du Punkteabzug und wirst Probleme haben, ein Flug- oder Zugticket zu kaufen, einen Kredit zu bekommen oder ein Apartment zu mieten.»

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