Harris muss zittern Warum jüdische Wähler die US-Wahl entscheiden können

AP/toko

22.10.2024 - 23:40

Die demokratische Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris muss um jede Stimme bangen. 
Die demokratische Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris muss um jede Stimme bangen. 
Bild: Keystone

Das US-Präsidentschaftsrennen ist äusserst eng. Da kann jede auch nur kleine Verschiebung im Wählerverhalten in den entscheidenden Bundesstaaten den Ausschlag geben.

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Jüdische Wähler in den USA sind traditionell eher den Demokraten zugewandt.
  • Doch im aktuellen Wahlkampf muss die Partei mit ihrer Kandidatin Kamala Harris um Stimmen aus dieser Wählerschicht bangen.
  • Umfragen deuten zwar darauf hin, dass die meisten jüdischen Wähler weiterhin die Demokraten unterstützen.
  • Dennoch könnte jede winzige Verschiebung im Swing State Pennsylvania enorme Auswirkungen haben.

Rona Kaufman im US-Bundesstaat Pennsylvania sieht überall in ihrer Umgebung Zeichen dafür, dass sich so manche jüdische Wähler von den Demokraten im Stich gelassen fühlen – und bei der Präsidentschaftswahl am 5. November vielleicht für den Republikaner Donald Trump stimmen werden. Es spiegelt sich in ihrem Facebook-Feed wider. In dem Unbehagen, das sie kürzlich bei einer Frage-und-Antwort-Veranstaltung der Demokratischen Partei in Pittsburgh registriert hat. Und sie sieht es in ihrer Familie.

Sie glaube nicht, dass irgendein Verwandter in ihrer eigenen oder einer älteren Generation für Harris stimmen werde, «und wir haben niemals republikanisch gewählt», sagt die 49-jährige Kaufman mit Blick auf die demokratische Spitzenkandidatin Kamala Harris. «Meine Schwester hat ein Trump-Plakat vor ihrem Haus, und das ist eine grosse Veränderung.»

Wie gross? Umfragen deuten darauf hin, dass die meisten jüdischen Wähler weiterhin die Demokraten unterstützen. Dennoch könnte jede auch nur kleine Verschiebung im Swing State – Wechselwählerstaat – Pennsylvania enorme Auswirkungen haben: Bei den vergangenen zwei Präsidentschaftswahlen haben hier Zehntausende Stimmen den Ausschlag gegeben.

Vielleicht das Zünglein an der Waage

Juden machen zwar nur einen kleinen Teil der Wahlberechtigten in Pennsylvania, Michigan und Wisconsin aus, den Bundesstaaten der sogenannten «blauen Mauer», auf die sich die Demokraten bei vergangenen Wahlen zunehmend gestützt haben. Aber wenn es sich – wie diesmal – um ein äusserst enges Rennen handelt, bilden sie eine genügend grosse Wählerschaft, um vielleicht Zünglein an der Waage zu sein.

Und viele jüdische Wähler sagen, dass die Wahl 2024 für sie wie keine andere ist, an die sie sich erinnern können. Denn sie findet vor dem Hintergrund der wachsenden Folgen der Hamas-Attacke auf israelischem Boden am 7. Oktober 2023 statt. Dazu zählen auch diesjährige anti-israelische Proteste in vielen Städten und auf Universitätsgeländen. Zahlreiche Juden sagen, dass sie sich deshalb und wegen zunehmender antisemitischer Vorfälle in den USA unsicherer fühlten.

Harris und Trump wissen, was schon kleine Abwanderungen bedeuten könnten. Das hat die Vizepräsidentin zu einer Gratwanderung zwischen jüdischen und arabischstämmigen Wählern gezwungen – beide eine traditionell demokratische Wählerschaft. Harris musste anhaltende Unterstützung für Israel, Zorn über das Hamas-Massaker in Israel und Empörung über den Tod Zehntausender palästinensischer Zivilisten und massiver Zerstörung im Gazastreifen sozusagen in Einklang bringen.   

Trump will «bester Freund der Juden» sein

Die Regierung von Präsident Joe Biden hat versucht, Israel zu einem Ende der Kampfhandlungen zu bewegen, aber lässt ihm weiter militärische Hilfe zukommen. Trump hat sich bemüht, die Enttäuschung bei manchen jüdischen Wählern auszunutzen, indem er zum Beispiel sagte, dass Harris keine jüdischen Leute «mag». Juden, die nicht für ihn stimmten, sollten sich «auf ihren Geisteszustand hin untersuchen lassen», und er werde der «beste Freund sein, den jüdische Amerikaner jemals im Weissen Haus gehabt haben».

Laut einer im September veröffentlichten Umfrage  des Meinungsforschungsinstituts Pew wollen indes etwa zwei Drittel von ihnen Harris wählen. 2020 unterstützten 70 Prozent der Juden Biden, wie aus einer Erhebung der Nachrichtenagentur AP und des Meinungsforschungszentrums Norc hervorgeht. Die Frage ist, ob sich das geändert hat, zumal Juden Israels Überleben angesichts der Ausweitung des Krieges gegen die Hamas auf die Hisbollah und potenziell den Iran in einem neuen Licht sehen. Das hat auch das Verhältnis zwischen den USA und Israel erneut in den Fokus gebracht.

Viele in Pennsylvania sagen, dass ihnen in Wahlkämpfen noch nie eine so grosse Aufmerksamkeit gewidmet worden sei wie dieses Mal – weil der Bundesstaat bei der Wahl eine zentrale Rolle spielt. Trump und andere Republikaner versuchen, die Demokraten als eine Partei zu porträtieren, die zerrissen ist – zwischen ihrer traditionellen bedingungslosen Unterstützung Israels und einer wachsenden Gruppe in den eigenen Reihen, die Israel Kriegsverbrechen im Gazastreifen vorwirft, eine sofortige Einstellung der Angriffe und ein Ende der US-Militärhilfen für Israel fordert. 

«Widerwillige Trump-Wähler»

Bei manchen Juden, die in der Regel demokratisch gestimmt haben, ist das angekommen. «Ich glaube, dass es Leute gibt, die widerwillige Trump-Wähler sind, die sich als Juden in diesem Land fürchten», sagt Jeremy Kazzaz, ein Harris-Unterstützer in Pittsburgh. Er weist zugleich unter anderem darauf hin, dass die Demokratin stetig gegen Antisemitismus gekämpft habe, was vielen Wählern relativ unbekannt sei. Harris hat zudem einen jüdischen Ehemann, der viel im Wahlkampf für sie im Einsatz ist.

Dennoch ist es so, dass ihre Haltung zu Israel von jüdischen Wählern unterschiedlich beurteilt wird. Anhänger werten es zum Beispiel als starke Unterstützung, dass die Biden-Regierung Israel kürzlich eine Thaad-Raketenabwehr-Batterie samt Betriebspersonal geschickt hat. Aber andere sehen nur einen bedingten Rückhalt, etwa mit Bezug auf Bidens Dringen darauf, dass Israel keine iranischen Nuklearanlagen oder Ölfelder angreift.

Steve Rosenberg aus Philadelphia hat 2016 für Trump und 2020 für Biden gestimmt. Jetzt wird er zu Trump zurückkehren – zum grossen Teil, weil die Biden-Regierung in der Trump-Ära verhängte Sanktionen gegen den Iran aufgehoben und damit in seinen Augen Teheran Geld zur Finanzierung eines Krieges gegen Israel geliefert hat. Biden und Harris hätten «vor dem Iran kapituliert».  

Viele Juden, die Harris unterstützen, sehen dagegen in Trump eine Bedrohung für die Demokratie. Das sei wichtig, sagen sie, denn Minderheiten – einschliesslich Juden – hätten Grund, Verfolgung unter Diktatoren zu fürchten. Sie führen eine ganze Liste von Trump-Äusserungen an, die sie bedrohlich finden – darunter eine kürzliche, nach der er einen Militäreinsatz gegen «Feinde im Inneren» für denkbar hält.

AP/toko