Mitholz Eine Milliarde für die Räumung – und die Sorge, dass keiner zurückkommt

Von Anna Kappeler

26.2.2020

Bei einer Explosion des Munitionslagers Mitholz vor rund 70 Jahren haben neun Menschen ihr Leben verloren, nun soll das Dorf zwecks Räumung etwa von Bomben zehn Jahre lang evakuiert werden. Schwierige Sache, meinen Raumplaner.

Ein ganzes Dorf muss umziehen. Die 170 Bewohner von Mitholz im Berner Oberland werden ihre Häuser voraussichtlich für rund zehn Jahre verlassen müssen. So lange, bis der Bund das dortige ehemalige Munitionslager – und also 3'500 Tonnen Bomben und anderes Material – geräumt hat. Das sagte Verteidigungsministerin Viola Amherd am Dienstagabend vor Ort. Den Bund wird dieses Vorhaben rund eine Milliarde Franken kosten. Die Räumung soll in elf Jahren beginnen.

Die Mitholzerinnen und Mitholzer selber reagieren konsterniert auf die Nachricht. «Viele werden nicht mehr zurückkommen», sagt eine Anwohnerin gegenüber Radio SRF. Zehn Jahre seien eine lange Zeit.

Ein alter Mann stellt klar, er wolle das Dorf nicht verlassen. Wisse er doch gar nicht, wohin er in zehn Jahren gehen solle. 1947 verloren bei einer Explosion des Munitionslagers neun Menschen ihr Leben.

«Lieber ein Ende mit Schmerzen, als Schmerzen ohne Ende», kommentiert indes eine dritte Betroffene die neuen Pläne.

«Komplete Schliessung wäre klarer»

Das vom Bund geplante Szenario wirft auch raumplanerische Fragen auf. Aus verschiedenen Gründen fände er «eine komplette Schliessung von Mitholz wahrscheinlich sinnvoller als eine zehnjährige Evakuierung», sagt dazu Rudolf Rast, Inhaber eines Berner Architektur- und Planungsbüros, gegenüber «Bluewin»: «Das würde auch für die Betroffenen mehr Klarheit schaffen.» Das aktuell geplante Szenario habe viele Unklarheiten.

«Ein leeres Gebäude, das nicht gepflegt wird, verliert an Wert», sagt Rast, der früher auch Präsident der Berner, Solothurner und Freiburger Raumplaner gewesen ist, weiter: «Steht ein Haus zehn Jahre leer, geht es nicht ohne Renovation.» Die Frage für die Mitholzer laute also: «Kann ich meine Wohnung, mein Haus renovieren? Wie viel Geld und Unterstützung bekomme ich dafür?»



Rast nennt ein Beispiel aus seinem beruflichen Alltag: «In Thun stand einst ein Haus drei Jahre leer. Im Winter hat die Kälte den Radiator gesprengt, worauf das Wasser ausgelaufen ist und sich überall verteilt hat. Die Folge war ein kompletter Pilzbefall. Diese Renovation wurde sehr, sehr teuer.»

«Häuser müssen überwacht werden»

Unabhängig von der Wohnsituation stellt sich für Rast die Frage nach einer materiellen Entschädigung für die Rückkehr. Das Dorf brauche – nach zehnjährigem Dasein als Geisterort – eine funktionierende Infrastruktur. «Im Fachjargon: Ist die Siedlungsausrüstung mit Schule, Läden und Beizen intakt?» Die leer stehenden Häuser müssten des Weiteren überwacht werden, damit sie nicht besetzt würden oder darin randaliert werde. «Auch das kostet.»

Dazu kämen soziale Komponenten: «Kehren die anderen Bewohner ebenfalls zurück? Ist die Sehnsucht nach der alten Heimat so gross, dass man die neuen Wurzeln nach zehn Jahren erneut aufgibt?»

«Das ist eine gesellschaftliche Herausforderung»

Die sozialen Aspekte betont auch der Berner Raumplaner Georg Tobler: «Zehn Jahre sind lang. Die Um- und die Rücksiedlung ist nicht nur eine raumplanerische Frage, sondern in erster Linie eine gesellschaftliche Herausforderung. Hier wird das ganze Tal, aber auch der Kanton und der Bund gefordert sein», sagt Tobler zu «Bluewin».

Gelingt es, Mitholz nach zehn Jahren als Geisterdorf wieder zum Leben zu erwecken?

Toblers Einschätzung: «Die Wahrscheinlichkeit dafür erhöht sich, wenn man den Bewohnern möglichst nahe von Mitholz eine vorübergehende Heimat anbietet.» Der Alltag – das heisst der Arbeitsweg, Freizeit, soziale Dorfkontakte, die Schulsituationen – sollte sich so wenig wie möglich ändern. «So erhöht sich die Chance, dass die Bewohner durch die räumliche Nähe auch emotional mit Mitholz verbunden bleiben, und danach wieder in ihre Häuser zurückkehren.»



Vermieden werden sollte laut Raumplaner Tobler, dass die Mitholzer nach Spiez oder Thun ausweichen müssen. «In den Nachbardörfern müssten ihnen gute Alternativen angeboten werden können.» Hier könne die Raumplanung helfen. «Vielleicht bietet die Rückkehr nach Mitholz aber auch die Chance, dem Dorf mit neuen Einwohnerinnen und Einwohnern neue Impulse zu geben.»

Gemeindepräsident will teurere Strasse

Etwas Positives aus der Hiobsbotschaft ziehen können, darauf hofft auch Roman Lanz, der als Gemeindepräsident von Kandergrund für Mitholz zuständig ist. Im Radio SRF fordert Lanz deshalb eine neue Strasse von Frutigen nach Kandersteg. Und zwar eine teurere Variante, «die nicht durch das Dorf hindurchführt, sondern unter ihm durch oder neben ihm vorbei». Lanz war für «Bluewin» nicht erreichbar.

Bund will sich um jede und jeden Einzelnen kümmern

Und wie reagiert man beim Bund auf solche Begehrlichkeiten? «Das Verteidigungsdepartement wird die Bevölkerung in der ganzen Phase unterstützen, soweit dies die Betroffenen wünschen und benötigen», sagt Lorenz Frischknecht, Pressesprecher des Verteidigungsdepartements VBS, auf Anfrage von «Bluewin». «Dazu werden wir mit den einzelnen Personen und Familien das Gespräch suchen, um für jede und jeden Einzelnen eine gute Lösung zu finden.» Dabei werde es auch um Fragen wie die Instandhaltung von Gebäuden in der Zeit der Räumungsarbeiten gehen.

Doch warum räumt der Bund Mitholz für zehn Jahre, und nicht für immer? «Die Variante, die Munition nicht zu räumen und eine Sicherheitszone um die Anlage einzurichten, wurde im Rahmen der Variantenevaluation geprüft. Und wieder verworfen», sagt Frischknecht. Es bestehe Konsens zwischen VBS, Kanton und Gemeinde, das Ziel zu verfolgen, die Munition zu räumen und Mitholz wieder bewohnbar zu machen.

Wie teuer genau das für den Bund wird, zeigt sich im Herbst. Dann entscheidet er, wie er bei der Räumung vorgeht.

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