«Ehe für alle» Wiegen sich die Befürworter in falscher Sicherheit?

Von Alex Rudolf

25.9.2021

Lukas Golder denkt, dass es für die Ehe für alle zu einem soliden Ja kommen wird.
Lukas Golder denkt, dass es für die Ehe für alle zu einem soliden Ja kommen wird.
KEYSTONE/Peter Schneider

Obwohl ein Ja zum CO2-Gesetz vorhergesagt wurde, schiffte die Vorlage im Juni ab. Nun wird auch der «Ehe für alle» ein komfortables Ja prognostiziert. Zu Unrecht?

Von Alex Rudolf

63 Prozent der Stimmbevölkerung sollten sich am morgigen Abstimmungssonntag für die «Ehe für alle» aussprechen. Zumindest, wenn es nach den Analysen der Meinungsforscher von gfs.bern geht. Anhand von Medienanalysen, Inserate-Intensität, Kampagnenwahrnehmung und Prognosen geht das Institut von einem deutlichen Ja aus.

Den Ausgang von Wahlen und Abstimmungen vorherzusagen, scheint aber schwieriger geworden zu sein. Sicher geglaubte Vorlagen erleiden Schiffbruch, während die chancenlosen Erfolge feiern. Lukas Golder, Co-Leiter von gfs.bern, gibt Auskunft darüber, wie verlässlich die Vorhersagen eigentlich sind.

Herr Golder, am Sonntag entscheidet das Stimmvolk über die «Ehe für alle». Die Umfragen sagen einen Sieg der Befürworter voraus. Kann sich das Ja-Komitee entspannen und sich auf die Sieges-Party freuen?

Auf den vorhandenen Zahlen sollte man sich keineswegs ausruhen. Denn Abstimmungskampagnen leben bis ganz zum Schluss. Viele entscheiden sich in den letzten Tagen für oder gegen eine Vorlage und daher sind auch die aktuelle Stimmung und die vorhandenen Argumente sehr wichtig.

Das heisst also, der Wind könnte noch drehen?

Dass unsere Analysen den korrekten Ausgang vorhersehen, können wir nicht zu 100 Prozent garantieren. Vor der «Ehe für alle»-Abstimmung deuten aber nicht nur die Umfragewerte auf ein Ja hin. Auch die Ausgangslage, die Parolen der Parteien, der gesellschaftliche Diskurs und die Intensität der Kampagnen deuten auf ein solides Ja hin. Nichtsdestotrotz ist die «Ehe für alle» noch nicht in trockenen Tüchern.

Auch vor der Abstimmung zum CO2-Gesetz im Juni gingen die meisten Umfragen von einem Ja aus.

Vielleicht ist eher die Einschätzung der Medien das Problem. Denn ich fertigte vor dem 13. Juni auf Basis der Vorumfragen zwei mögliche Szenarien an, mit denen ich in den Abstimmungssonntag ging: ein knappes Ja und ein knappes Nein. Wir konnten beim besten Willen nicht einschätzen, wie es ausgeht, und haben das im Bericht auch festgehalten.



Was hätte geholfen?

Wenn wir gewusst hätten, dass die Mobilisierung auf dem Land derart stark ist, wäre mir sofort klar gewesen, dass die Vorlage verworfen wird. Denn Umfragen können das Stimmverhältnis jener, die abstimmen, recht gut einschätzen. Womit die Statistik Mühe hat: berechnen, welche Region eine höhere oder tiefere Stimmbeteiligung aufweist.

Welche Rolle spielt der Abwärtstrend, den die «Ehe für alle» wie auch das CO2-Gesetz aufweisen?

Geschieht nichts Spezielles mehr, gehen wir bei unseren Prognosen davon aus, dass sich ein Nein-Trend nach der letzten Umfrage bis zum Abstimmungssonntag im gleichen Ausmass fortsetzt. Beim CO2-Gesetz sprachen sich Ende April 60 Prozent dafür aus und im Mai nur noch 54. Unter der Annahme, dass die Zustimmung gleich rasant sinkt, waren am 13. Juni noch rund 50 Prozent dafür, was sich auch als korrekt erwiesen hat.

Auch die «Ehe für alle» verlor in den letzten Wochen an Boden.

Aber nicht im selben Ausmass. Bei der ersten Umfrage sprachen sich 69 Prozent dafür aus, bei der zweiten nur noch 63. Würde nun etwas Dramatisches geschehen, wie etwa die Kampagne des Bauernverbandes vor dem 13. Juni, könnte man noch sechs Prozent abziehen. Doch selbst dann hätte die Vorlage noch eine komfortable Mehrheit.

Haben Sie Hinweise darauf, wie stark die Stadt- beziehungsweise die Landbevölkerung mobilisiert wird?

In den Städten beobachten wir ansehnliche Stimmbeteiligungswerte. Hinweise, dass die Nein-Kampagne auf dem Land greift, habe ich indes nicht. Einen derart dramatischen Rückgang wie beim CO2-Gesetz erwarte ich daher nicht.

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Seit der Wahl von Donald Trump 2016 spricht man auch vom Phänomen der sozialen Erwünschtheit. Umfrage-Teilnehmer*innen bekannten sich in der Erhebung nicht dazu, Trump zu wählen, wodurch die Umfragen einen Sieg Clintons vorhersagten. Wie verhindern Sie, dass das auch in der Schweiz geschieht?

Nur der Vollständigkeit halber: Hillary Clinton hat an der Urne mehr Wählerstimmen erhalten als Donald Trump, genau wie die Umfragen festhielten. Die Umfragen, die in den gesamten Vereinigten Staaten durchgeführt wurden, waren sogar genauer als die Umfragen zu Barack Obamas Wahl. Es gab in der Tat Probleme mit den Umfragen, aber vor allem auf Ebene der Elektorenstimmen, die in den Teilstaaten nach Mehrheitsrecht vergeben werden. Da gab es effektive Umfrage-Fails. Das «Shy-Trump»-Phänomen war jedoch viel kleiner als ursprünglich angenommen.

Und in der Schweiz?

Geht man davon aus, dass die Menschen stets in ihrem ureigenen Interesse wählen und abstimmen, würden sehr viele Abstimmungen und Wahlen anders ausgehen. Es gibt also eine soziale Erwünschtheit, die sich bis zum Stimmverhalten zeigt. Viele profitieren nicht direkt von der «Ehe für alle». Aber wir gehen von einer klaren Mehrheit aus, da sich viele eine moderne, liberale Gesellschaft wünschen, in der gleichgeschlechtliche Paare heiraten können.

Gibt es dazu Zahlen?

Wir können nicht garantieren, dass die Befragten uns die Wahrheit sagen. Wir glauben aber, dass es ihnen wichtig ist, ihre Wahrheit auszudrücken. Zudem haben wir verschiedene Prüfkriterien. So erheben wir einerseits die verschiedenen Argumente im Zusammenhang mit einer Abstimmung sowie die konkrete Abstimmungsabsicht. Stellen wir hier einen grossen Unterschied fest, sprechen wir von einem hohen Meinungsdruck.



Welche Themenbereiche sind üblicherweise betroffen?

Neue Themen, die in der Öffentlichkeit noch nicht ausführlich abgehandelt wurden. Hier in der Schweiz waren es in den vergangenen Jahren vorwiegend Themen, welche die SVP vorgebracht hat. Etwa die Minarett-Initiative, die wir sehr gründlich analysiert haben. Sie wurde 2009 mit rund 57 Prozent angenommen. Hier kamen wir zum Schluss, dass sich ein Teil der Fehleinschätzung der vorangegangenen Umfragen tatsächlich mit der sozialen Erwünschtheit erklären lässt.

Wie hoch ist der Meinungsdruck bei der «Ehe für alle»?

Man sieht praktisch keinen Unterschied zwischen der Haltung bezüglich der Argumente und den Abstimmungsabsichten. Die zweite Prüfung, die wir machen, ist die indirekte Sonntagsfrage. Hier fragen wir die Teilnehmenden, welchen Ausgang sie für die Abstimmung erwarten. Dies ist ein sehr guter Prognosen-Indikator. Beim CO2-Gesetz ging daraus ein haarscharfes Ja hervor. Bei der «Ehe für alle» ist die Sachlage eindeutig. Unsere Teilnehmenden gehen von einem Ja aus.