99-Prozent-Initiative Vor lauter Zahlen den Durchblick verloren? Damit kannst du rechnen

Von Lia Pescatore

16.9.2021

Mitglieder der Juso bei der Einreichung der gesammelten Unterschriften für die 99-Prozent-Initiative, am 2. April 2019 in Bern. 
Mitglieder der Juso bei der Einreichung der gesammelten Unterschriften für die 99-Prozent-Initiative, am 2. April 2019 in Bern. 
Keystone

Steuersätze, Ungleichheit-Quotienten und Firmenanteile: Der Abstimmungskampf um die 99-Prozent-Initiative ist eine Zahlenschlacht. Wir haben uns durchgekämpft und alles Wichtige zusammengefasst.

Von Lia Pescatore

16.9.2021

In zehn Tagen stimmt die Schweiz über die 99-Prozent-Initiative der Jungsozialist*innen (Juso) ab. Diese hat nicht weniger zum Ziel, als durch die Besteuerung von Kapitalgewinn das Vermögen in der Bevölkerung gerechter zu verteilen. So soll verhindert werden, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter öffnet.

Öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich in der Schweiz wirklich?

Laut einer Studie der Bank Cler hat die Ungleichheit seit der Finanzkrise im Jahr 2008 nicht spürbar zugenommen und sich so die Schere zwischen Arm und Reich kaum geöffnet.

Einzige Ausnahme sind die Superreichen, wie Reto Föllmi und Isabel Martínez in einer Studie festhalten. In den 90er-Jahren habe das Vermögen der obersten 0,01 Prozent zwischen 4,5 und 6 Prozent betragen, jetzt seien es bereits zwischen 8 und 12 Prozent. «Das Kuchenstück der ganz Reichen hat sich also in den letzten Jahren verdoppelt», sagt so auch Martínez im Interview mit dem «Tages-Anzeiger»

Doch nicht nur das Vermögen der Superreichen steigt, sondern laut der Cler-Studie auch der Anteil der Vermögensmillionäre. Die Anzahl stieg zwischen 2007 und 2017 um 52 Prozent auf mehr als 330'000 Personen. 

Bei genau diesen Superreichen will die Juso ansetzen. Sie sollen mehr Steuern auf ihre Kapitalgewinne zahlen, damit das Geld an die Bevölkerungsgruppen mit tieferen und mittleren Einkommen fliessen kann.



Wie wird das Kapitaleinkommen denn heute besteuert?

Das Kapitaleinkommen wird grundsätzlich gleich besteuert wie das Arbeitseinkommen. Es gibt aber auch Ausnahmen. So werden zum Beispiel Dividenden nur teilweise versteuert, wenn man mindestens 10 Prozent Anteile des Unternehmens besitzt. Damit soll eine Doppelbesteuerung verhindert werden, da der durch die Dividenden ausgeschüttete Gewinn bereits versteuert wurde.

Zudem sind private Kapitalgewinne steuerfrei. 

Wie viele der Steuern zahlen die Reichen?

Das einkommensstärkste Prozent der Bevölkerung zahlt rund 40 Prozent der direkten Bundessteuer, besitzt aber nur «10» Prozent des gesamten Einkommens. Die Steuern sind progressiv aufgebaut. Das heisst, je höher das Einkommen, umso mehr Steuern müssen verhältnismässig gezahlt werden. 

Was würde sich ändern?

Die Initiative würde die Ausnahmen wie die Teilbesteuerung der Dividenden und die Steuerfreiheit der privaten Kapitalgewinne abschaffen. Das ist aber nur Beigemüse der Vorlage.

Die Umverteilung soll dadurch erreicht werden, dass ab einem Schwellenwert das Kapitaleinkommen 1,5-mal so hoch besteuert werden soll wie das Arbeitseinkommen.

Die Höhe des Schwellenwerts würde bei einer Annahme vom Parlament festgelegt. Die Juso schlägt 100'000 Franken vor. So soll erreicht werden, dass nur das Kapitalvermögen der Reichsten angezapft wird. 



Schadet die Initiative nun 100 Prozent (Gegner-Argument) oder nützt sie 99 Prozent?

Das ist schwierig abzuschätzen. Da die Initiative – wie die meisten Volksinitiativen – gewisse Punkte offen formuliert, ist schwer vorherzusagen, welche Folgen die Steuererhöhung auf die Allgemeinheit hätte. 

Eine Studie, die von den Wirtschaftsverbänden, Economiesuisse und Swiss Family Business in Auftrag gegeben wurde, rechnet vor, dass Familienunternehmen und Start-ups beim Verkauf ihres Unternehmens mit grossen Einbussen rechnen müssten, falls die Initiative angenommen würde.

Die Befürworter argumentieren hingegen, dass die Umverteilung gerade den lokalen Geschäften zugutekäme, da dadurch die Kaufkraft der Bevölkerung gesteigert würde. 

Hemmt eine weitere Umverteilung das Wirtschaftswachstum?

Vor der Jahrtausendwende war die vorherrschende Meinung, dass eine Ungleichheit der Einkommen einen motivierenden Effekt habe und dadurch die Wirtschaft ankurble. Die Ansicht habe sich aber stark geändert, nachdem starke Steuersenkungen das Gefälle zwischen Arm und Reich weiter vergrösserte, sagt Isabel Martínez dem «Tages-Anzeiger», deren Forschungsfokus unter anderem auf der Ungleichheit von Einkommen und Vermögen liegt. 

Dieser Meinungsumschwung zeigt auch eine aktuelle Umfrage der NZZ, an der 142 Ökonominnen und Ökonomen teilnahmen. Mehr als die Hälfte war der Meinung, dass Ungleichheit beim Vermögen wachstumshemmend sei. 45 Prozent sprachen sich für eine zumindest leicht höhere Besteuerung von Kapitaleinkommen aus, 40 Prozent bevorzugen eine gleich hohe Belastung von Arbeit und Kapital.