Fall Windisch Sind die Asylunterkünfte überlastet oder versagt das System?

mmi

2.3.2023

Während die einen Kantone den Asylnotstand ausrufen, haben andere noch freie Unterbringungsmöglichkeiten.
Während die einen Kantone den Asylnotstand ausrufen, haben andere noch freie Unterbringungsmöglichkeiten.
Keystone

Im Aargau erhalten 49 Mieter*innen die Kündigung, in denen vorübergehend Asylsuchende Platz finden sollen. Zeitgleich melden die Kantone 7'300 Plätze für Flüchtlinge – wie passt das zusammen?

mmi

«Schockiert: Der Aargau richtet eine Asylunterkunft in Windisch ein – 49 Mieter*innen erhalten die Kündigung» titelte die «Aargauer Zeitung» am Montagmittag und löste eine Debatte über die aktuelle Situation im Schweizer Asylwesen aus.

Wie der «Tages-Anzeiger» schreibt, äussern Politiker*innen von links bis rechts ihr Unverständnis über die Kündigungen. Während die SVP von einem «Asylchaos» spricht und die erst seit Anfang Jahr amtierende Justizministerin Elisabeth Baume-Schneider dafür verantwortlich macht, bläst die Linke zum Gegenangriff.

Die SP sieht die Schuld wiederum bei der SVP. Laut Co-Parteipräsident Cédric Wermuth sei der Fall Windisch auch gerade ein «SVP-Problem». Dass in einigen Gegenden der Schweiz die Wohnungen knapp und teuer seien, habe nichts mit den Asylsuchenden zu tun, sondern mit der Gewinnmacherei der Immobilienkonzerne, so Wermuth. Zudem habe sich die SVP immer gegen besseren Kündigungsschutz für Mieter*innen ausgesprochen. 

Der Fall Windisch

Am 17. Februar hat der Kantonale Sozialdienst, der SVP-Regierungsrat Gallati untersteht, die Gemeinde Windisch darüber informiert, dass der Kanton in mehreren günstigen Altbauwohnungen eine Asylunterkunft für 100 Flüchtlinge plane. Daraufhin protestierte die Gemeinde schriftlich beim Kanton. Dennoch erhielten um den 22. Februar die ersten Betroffenen von insgesamt 49 Menschen eine Kündigung. Die Kündigungen sind nicht vom Kanton ausgesprochen worden, sondern von der Immobiliengesellschaft 1drittel Aleph AG, der Eigentümerin der Liegenschaften. Am Mittwochmorgen kommunizierte die Eigentümerin, dass die Kündigungen einzig und allein ausgesprochen werden mussten, weil «die bestehende Liegenschaft ihren baulichen Zyklus erreicht hat». In der schriftlichen Stellungnahme hiess es weiter, dass der Grund für die Kündigung und die beabsichtigte Zwischennutzung zwei komplett unabhängige Angelegenheiten seien. Weiter räumte am Mittwochabend die Aargauer Regierung Fehler bei der Planung der Asylunterkunft ein. Nun will der Kanton den gekündigten Mieter*innen helfen.

Doch ist die Lage tatsächlich so dramatisch, wie es die SVP prophezeit?

«Lage nicht in besonderem Masse dramatisch»

Laut Gaby Szöllösy von den kantonalen Sozialdirektor*innen (SODK) sei die Unterbringung von Asylsuchenden seit längerem eine Herausforderung. Wie die Generalsekretärin zum «Tages-Anzeiger» sagt, sei die Lage aber über die ganze Schweiz gesehen nicht in besonderem Masse dramatisch. 

Das zeigen auch die aktuellen Zahlen. Schweizweit melden die Kantone und Gemeinden mehr als 7300 freie Unterbringungsplätze. Nur zwei Kantone haben ihre Kapazitätsampel auf Rot gestellt, was bedeutet, dass sie kaum noch freie Plätze haben. In den übrigen Kantonen ist die Ampel grün oder orange. Um welche Kantone es sich handelt, gibt die SODK aber nicht preis.

Wer die Schuld nur bei den Kantonen suche, solle daran denken, dass diese je nach Kanton stark variieren könne, sagt Szöllösy. In gewissen Regionen, etwa in der Ostschweiz oder Zentralschweizer Kantonen, sei der Wohnraum viel billiger, den die Behörden animieren können, entsprechende Unterkünfte bereitzustellen – etwa ehemalige Hotels oder Pfadfinderheime.

Schuld nicht nur bei den Kantonen

In Ballungszentren hingegen fehlt es an beiden. Im Kanton Genf ist man auf die Messehalle Palexpo ausgewichen. In Zürich und Bern sind Containerdörfer entstanden. Dennoch signalisieren Städte wie Zürich, Bern oder Luzern, Flüchtlinge über den nationalen Verteilschlüssel hinaus aufzunehmen.

Hinzu kommt, dass sich die Kantone unterschiedlich organisieren. Im Wallis oder in Genf tragen die Kantone die Verantwortung für Unterbringung von Asyl- und Schutzsuchenden. In Aargau hingegen sind auch die Gemeinden wie Windisch in der Verantwortung. Weil der Kanton Aargau Anfang Jahr die sogenannte Asylnotlage ausgerufen hat, kann er Gemeinden dazu verpflichten, Anlagen zur Verfügung zu stellen.

Auf Anfrage des Newsportals «Watson» teilt die Stadt Zürich mit, dass man das Kontingent zwar bereits erfüllt habe, aber weiterhin Personen aufnehme, weil die Stadt noch über «genug Unterkünfte» verfüge. In Bern gibt es laut dem Sozialamt der Stadt Bern noch 82 freie Plätze für Personen mit Status S und weitere 265 Plätze für «Engpässe und für sämtliche Personengruppen». Hingegen in Basel-Stadt heisst es, dass noch ausreichend Reserveplätze für die Unterbringung von zugewiesenen Geflüchteten vorhanden seien. Doch deren Aufnahme über den Anteil gemäss national geltendem Verteilschlüssel hinaus sei nicht möglich.

2,8 Asylgesuche pro 1'000 Einwohner*innen

Gemäss dem Staatssekretariat für Migration (SEM) werden die Asylsuchenden anhand eines gesetzlich definierten Verteilschlüssels verteilt. Der richtet sich nach dem Bevölkerungsanteil des jeweiligen Kantons an der Gesamtbevölkerung in der Schweiz. 

2022 sind in der Schweiz rund 24'500 Asylgesuche eingegangen. Das sind zwar mehr als in den vergangenen Jahren, aber erheblich weniger als im Jahr 2015. Damals sind fast 40'000 Asylgesuche eingegangen. Zu den Gesuchen kamen allerdings über 70'000 Flüchtende aus der Ukraine, die den Schutzstatus S erhielten. Deshalb aktivierten Bund und Kantone bereits im Frühjahr den Notfallplan mit zusätzlichen Unterbringungsmöglichkeiten. Pro 1'000 Einwohner*innen verzeichnet die Schweiz 2,8 Asylgesuche. Europaweit verzeichnete am meisten Asylgesuche pro 1000 Einwohner Zypern (24,1), Österreich (12,2) und Griechenland (3,5).

59 Prozent der Asylsuchenden benötigen tatsächlich Schutz. Dabei lag Afghanistan bei den Herkunftsländern an der Spitze.

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