Russland-Experte «Putin hat sich wohl verschätzt»

Von Lia Pescatore

23.2.2022

Russland-Experte : «Putin hat sich wohl verschätzt»

Russland-Experte : «Putin hat sich wohl verschätzt»

Der russische Präsident Wladimir Putin will mit dem Einmarsch in die Ukraine seine Popularität stärken. Laut Russland-Experte Ulrich Schmid könnte die Aktion die gegenteilige Wirkung entfalten.

23.02.2022

Der russische Präsident Wladimir Putin will mit dem Einmarsch in die Ukraine seine Popularität stärken. Laut Russland-Experte Ulrich Schmid könnte die Aktion die gegenteilige Wirkung entfalten. 

Von Lia Pescatore

Herr Schmid, wie sehr kann Putin mit seinem Vorgehen innenpolitisch punkten?

Ich könnte mir vorstellen, dass sich Putin verschätzt hat bei der Popularität dieser Aktion in der Ukraine. Es gibt viele russische Familien mit ukrainischen Grosseltern. Es gibt enge Familienverbindungen zwischen Russland und der Ukraine. Es ist sicher ein heikles Thema, gerade wenn es erste Tote gibt und die Situation eskalieren würde.

Wer unterstützt denn Putins Pläne?

Putin kann höchstens bei den ultra-nationalistischen und konservativen Bürger*innen Russlands mit der Aktion punkten. Die Intelligenz in den Städten, vor allem in Moskau und Petersburg, hat Putin eigentlich schon weitgehend verloren. Der Kreml ist froh, wenn diese Menschen nicht protestierend auf die Strasse gehen.

Dann ist die Situation nicht vergleichbar mit der Annexion der Krim?

Das ist ganz klar eine ganz andere Situation als vor acht Jahren. Damals war das ganze Land in einer euphorischen Stimmung. Sogar die schärfsten Oppositionsführer fanden sich in einem Dilemma wieder. Zum Beispiel Alexei Nawalny, der gerade zu einer neuen Haftstrafe verurteilt wird. Auch Nawalny konnte sich nach der Annexion der Krim zu keinem klaren Statement durchringen, dass die Annexion widerrechtlich durchgesetzt worden ist.

Gibt es Probleme im Innern, von denen Putin ablenken will?

Zur Person

Ulrich Schmid ist Professor für die Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen. Er forscht zu Politik und Medien in Russland sowie zum Nationalismus in Osteuropa.

Seine Popularität sinkt. Zwar hat er nach westeuropäischen Massstäben immer noch sehr gute Zustimmungswerte mit etwa 60 Prozent. Die Popularität ist seit der Annexion der Krim von damals 90 Prozent stark gesunken. Besonders problematisch war die Rentenreform im Jahr 2017, die auf sehr grossen Widerstand gestossen ist.

Riskiert Putin nun weiter an Popularität einzubüssen?

Ich könnte mir vorstellen, dass sich Putin und seine Entourage mit ihrem Vorgehen in eine sehr schwierige Situation manövriert haben. Es ist vor allem ein Kurswechsel. Noch vor einer Woche haben Aussenminister Lawrow und Putin selber gesagt, dass der Minsker Prozess alternativlos sei, jetzt haben sie diesen selbst gewaltsam beendet.

Gibt es denn einen Weg zurück für Putin?

Meiner Meinung nach bleibt die aktuelle Situation der Status quo für die nächsten Jahre. Ich glaube nicht, dass die angeblichen russischen Friedenstruppen, die jetzt stationiert werden in den beiden selbsternannten Volksrepubliken, auch auf die Aussenterritorien ausgreifen würden. Das würde einen Flächenbrand auslösen.