Vier Aussagen im Fakten-Check Das ist dran an Putins Argumentation

Von Oliver Kohlmaier

22.2.2022

Der russische Präsident Wladimir Putin schilderte in einer düsteren Rede seine eigene historische Sichtweise.
Der russische Präsident Wladimir Putin schilderte in einer düsteren Rede seine eigene historische Sichtweise.
Alexei Nikolsky/POOL Sputnik Kremlin via AP/dpa

Um sein Vorgehen in der Ukraine zu rechtfertigen, erteilt Russlands Präsident Wladimir Putin der Weltgemeinschaft eine eigenwillige Geschichtslektion. Die wichtigsten Argumente Putins und ihre Einordnung.

Von Oliver Kohlmaier

Die befürchtete Anerkennung der abtrünnigen ukrainischen Gebiete Luhansk und Donezk durch Russland ist seit Montagabend Realität, für Putin «eine längst überfällige Entscheidung».

Ebenso schockiert wie über den Bruch des Völkerrechts waren weite Teile der Weltgemeinschaft über die Begründungen, die Russlands Präsident  lieferte. Um sein Vorgehen in der Ukraine zu rechtfertigen, erteilt Wladimir Putin in einer düsteren Rede seinem Volk und dem Rest der Welt eine eigenartige Geschichtslektion.

Putins Argumente sind gleichwohl nicht neu. Die wichtigsten Behauptungen in seiner Rede — und ihre historische Einordnung:

«Die Ukraine hat keine Tradition der Eigenstaatlichkeit und wurde von Russland erschaffen»

In seiner TV-Ansprache holte Russlands Präsident zum Rundumschlag gegen die Ukraine, die Nato und den Westen aus. Zentrales Element seiner Rede war der Zweifel an der Legitimität der Ukraine. Diese habe laut Putin keine Tradition der Eigenstaatlichkeit, Russen und Ukrainer seien ein Volk. Letzteres behauptet Putin seit Jahren unentwegt, zuletzt verfasste er im Juli einen vielbeachteten und im Westen mit Schrecken aufgenommenen Aufsatz über die «Historische Einheit von Russen und Ukrainern». 

In der Tat verbindet Russland und die Ukraine eine lange gemeinsame Geschichte. So handelte es sich bei der sogenannten Kiewer Rus um ein mittelalterliches Grossreich, das als ein Vorläufer der heutigen Nationalstaaten Belarus, Ukraine und Russland gelten kann. Dennoch: Die Aussagen Putins orientieren sich an ausgewählten und in seinem Sinne umgedeuteten Ereignissen, die bestenfalls irreführend sind. 

In seinem Buch «Der Weg in die Unfreiheit» dekonstruiert der Historiker und renommierte Osteuropa-Experte Timothy Snyder diese Narrative. Die «politische Idee» der Ukraine ist laut Snyder demnach weit über 400 Jahre alt, dennoch beschwöre Putin permanent einen gemeinsamen spirituell-politischen Gründungsmythos, aus dem er die angebliche Einheit ableitet. 

Wladimir Putin bei seinem Besuch 2013 in Kiew. 
Wladimir Putin bei seinem Besuch 2013 in Kiew. 
EPA/MIKHAIL KLEMENTEV / POOL (Archivbild)

So betonte er im Juli 2013 bei einer Rede während eines Besuchs in Kiew, die «spirituelle Einheit» der beiden Völker bestehe bereits seit über 1025 Jahren. Damit bezieht sich Putin auf die Christianisierung der Kiewer Rus und die Taufe von Wladimir dem Heiligen im Jahre 988, ein Schlüsselereignis in der Geschichte der Rus. Der heutige Staat der Ukraine wurde erst nach dem Ende des Ost-West-Konflikts unabhängig.

Dennoch gab es auch zuvor schon ukrainische Nationalstaaten. So entstanden zunächst die Ukrainische Volksrepublik und die Westukrainische Volksrepublik nach der russischen Februarrevolution 1917. Im Russischen Bürgerkrieg wurde der Grossteil des ukrainischen Gebiets von der Roten Armee erobert und zunächst Teil von Sowjetrussland, 1922 schliesslich als «Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik» neu gegründet.

Bei einem Referendum nach dem Zerfall der Sowjetunion sprachen sich 92 Prozent der ukrainischen Bevölkerung für eine Unabhängigkeit des Landes aus und nahmen damit ihr Recht auf Selbstbestimmung wahr. Auch in den russischsprachigen Regionen befürwortete eine Mehrheit einen eigenen ukrainischen Nationalstaat.

«Die Ukraine will Atomwaffen bauen und bereitet damit einen Angriff auf Russland vor»

Laut Putin habe es bereits «Berichte» gegeben, denen zufolge die Ukraine eigene Atomwaffen herstellen wolle. Dies sei «keine leere Prahlerei», wie der Präsident in seiner Rede betonte. So verfüge das Land laut dem russischen Präsidenten noch immer über sowjetische Nukleartechnologien sowie Trägersysteme für solche Waffen. Von welchen Berichten Putin hier spricht, bleibt letztlich unklar. Bezug nimmt er dabei historisch auf die einstige nukleare Abrüstung der Ukraine. 

Das Land war nach dem Ende des Ost-West-Konflikts für einige Zeit eine der grössten Nuklearmächte auf dem Planeten. Durch den Zerfall der Sowjetunion befanden sich grosse Teile des nuklearen Arsenals auf ukrainischem Territorium — die Sowjets hatten die Kernwaffen zurückgelassen.

Im Budapester Memorandum von 1994 verpflichteten sich schliesslich Russland, die USA sowie Grossbritannien, die Souveränität sowie territoriale Integrität der Staaten Ukraine, Belarus sowie Kasachstan anzuerkennen. Letztere verzichteten im Gegenzug auf ihre Nuklearwaffen. die Kernwaffen der Ukraine gingen also in den Besitz Russlands über.

Laut Yuri Kostenko, Chef-Unterhändler der Ukraine bei den Verhandlungen in den 90er Jahren, zeige sich nun, wie viel die Garantien Russlands wert seien. Der US-Zeitung «Politico» sagte der 70-jährige: «Im Rückblick war die nukleare Abrüstung der Ukraine, und wie sie passiert ist, ein schrecklicher Fehler.»

«An der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine findet ein Genozid statt»

Die nun von Putin anerkannten ostukrainischen «Volksrepubliken» Luhansk und Donezk sind Gebiete mit einem grossen Anteil russischsprachiger Bevölkerung. Das gilt für alle Regionen östlich des Flusses Dnjepr. Putin erklärt seine Massnahmen auch mit dem Schutz dieser Gruppe. Er spricht in seiner Rede von einem «Genozid» in der Ostukraine. 

Diese Behauptung ist nicht neu. Schon bei der Annexion der Krim begründete der Staatschef das Vorgehen in der Ukraine mit dem Schutz des eigenen Volkes. Für einen Genozid in der Ostukraine gibt es jedoch keine Belege. Erst am Wochenende bezeichnete der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz auf der Münchener Sicherheitskonferenz Putins Genozid-These als «lächerlich». Moskaus Führung besteht jedoch darauf, dass wegen der angeblichen ukrainischen Verbrechen gegen die russischsprachige Bevölkerung im Donbass kein anderer Weg bleibe.

Südossetien im August 2008: Russische Truppen auf einem gepanzerten Fahrzeug fahren an einem grossen Plakat des russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin vorbei.
Südossetien im August 2008: Russische Truppen auf einem gepanzerten Fahrzeug fahren an einem grossen Plakat des russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin vorbei.
AP Photo/Dmitry Lovetsky/Keystone 2008.

Bei dem Vorstoss handelt es sich wohl vielmehr um Altbewährtes aus Putins Imperialismus-Lehrbuch. Es ist dasselbe Vorgehen, mit dem der Präsident nach einem kurzen Krieg 2008 Georgien bestrafte. Der damalige Ministerpräsident Putin warf Georgien vor, an den Osseten Völkermord zu begehen.

Wie die Ukraine 2014 verlor die Ex-Sowjetrepublik damals die Kontrolle über die Regionen Abchasien und Südossetien. Auch sie fristen seither als von Russland abhängige «Länder» ihr Dasein. Russland hat in den «unabhängigen Staaten» Tausende Soldaten stationiert.

Und wie jetzt galt der Schritt auch damals als Versuch, durch die Verletzung der territorialen Unversehrtheit eines Staates dessen angestrebten Beitritt zur Nato zu stoppen.

«Die Nato hat Russland betrogen»

Putin verknüpft die Ukraine-Frage immerzu mit geopolitischen Konflikten. Kernpunkt ist die Debatte um einen möglichen Nato-Beitritt des Landes, der für Putin in keinem Fall erfolgen darf. Überhaupt: Wäre es nach ihm gegangen, hätte keine ehemalige Sowjetrepublik jemals der Nato beitreten dürfen. Der Westen habe Russland demnach hintergangen.

Auch in seiner Rede am Montagabend wiederholte Putin seinen Vorwurf: «Sie haben uns betrogen.» 

Ob die Nato nach dem Ende des Ost-West-Konflikts Zusagen gemacht und schliesslich gebrochen hat, ist umstritten. 

Der damalige deutsche Aussenminister Hans-Dietrich Genscher und sein sowjetischer Kollege Eduard Schewardnadse bei einem Treffen in Genf im Mai 1990.
Der damalige deutsche Aussenminister Hans-Dietrich Genscher und sein sowjetischer Kollege Eduard Schewardnadse bei einem Treffen in Genf im Mai 1990.
KEYSTONE/Str (Archivbild)

Wiederholt genannt wird dabei ein Geheimvermerk eines Treffens zwischen dem deutschen Aussenminister Hans-Dietrich Genscher und seinem russischen Amtskollegen Eduard Schewardnadse. In der erst 2009 aufgetauchten Notiz heisst es, für Deutschland stehe fest, dass sich die Nato nicht nach Osten ausdehnen werde.

Erst kürzlich ist zudem ein weiteres Dokument aufgetaucht, das die russische Sichtweise stützt. Wie der «Spiegel» (kostenpflichtiger Inhalt) berichtet, fand der amerikanische Politikwissenschaftler Joshua Shifrinson dieses im britischen Nationalarchiv.

In dem Vermerk des deutschen Diplomaten Jürgen Chrobog nach einem Treffen zwischen den USA, Grossbritannien, Frankreich und Deutschlands heisst es demnach: «Wir haben in den Zwei-plus-vier-Verhandlungen deutlich gemacht, dass wir die Nato nicht über die Elbe hinaus ausdehnen. Wir können daher Polen und den anderen keine Nato-Mitgliedschaft anbieten.»

Mit Material von dpa