Putin schickt Truppen in die Ukraine
Russland erkennt die abtrünnigen ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk als unabhängig an und entsendet «Friedenstruppen» in die Separatistengebiete.
22.02.2022
Kreml-Chef Wladimir Putin überrascht mit seinem Kurs im Ukraine-Konflikt sogar Kenner der Region: der frühere OSZE-Generalsekretär Thomas Greminger über Fehler des Westens, Putins Sicht und die Eskalationsgefahr.
Wieso hält Kreml-Chef Wladimir Putin am Eskalationskurs fest, obschon das schwere Sanktionen nach sich zieht?
Das musste man schon seit mehreren Wochen als mögliches Szenario annehmen. Ich war aber, das gebe ich offen zu, der Auffassung, dass diese Art der Eskalation wenig wahrscheinlich sei. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow meinte vergangene Woche noch, eine Anerkennung der Separatistengebiete Donezk und Luhansk wäre das Ende des Minsker Abkommens – und Russland hatte zuletzt auf deren konsequente Umsetzung gepocht. Putin muss nun aber eine Güterabwägung vorgenommen haben und zu einem anderen Schluss gelangt sein. Russland behauptet jetzt jedoch im UNO-Sicherheitsrat, dass die Anerkennung der beiden Provinzen kompatibel mit dem Minsker Abkommen und eigentlich gar keine grosse Sache sei.
Wie bitte begründet der Kreml diese Ansicht?
Zum einen sei Russland keine Konfliktpartei in der Ukraine, sondern nur Vermittler. Und zum anderen sei die Anerkennung kein Schritt, der die Eskalation vorantreibe. Daher verstehe man nicht, wieso sich der Westen nun so echauffiere, lautete der Tenor bei der Beratung im UNO-Sicherheitsrat am Montag.
Putin begründet sein Auftreten in der Krise auch mit seiner Ablehnung der Nato. Ist die Nato-Skepsis auch in der russischen Bevölkerung verbreitet?
Zur Person
Keystone
Thomas Greminger ist Direktor des Forschungszentrums Geneva Centre for Security Policy (GCSP) in Genf und war von 2017 bis 2020 Generalsekretär der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).
Die Nato wird als Feind wahrgenommen, nicht nur von Putin, sondern auch in der Bevölkerung. Das kommt natürlich daher, dass dieses Feindbild entsprechend gepflegt wird. Aber: Russland wurde in seiner Geschichte immer wieder aus dem Westen angegriffen, was tief im Bewusstsein verankert ist. Wenn ich Stimmen aus dem Westen höre, die meinen: «Die Nato hat doch gar keine Angriffsabsicht», dann stimme ich dem zwar in der Sache zu, entgegne aber: Entscheidend ist nicht die Absicht, sondern die Wahrnehmung. Und aus russischer Sicht ist diese Bedrohung in den letzten 30 Jahren immer näher gerückt. Diese Sicht der Dinge muss man schon ernst nehmen.
Der Westen reagiert mit Sanktionen. Solche bestehen schon seit der Krim-Annexion 2014 – beeindruckt das Putin überhaupt noch?
Es braucht weiterhin einen Mix aus Abschreckung und Diplomatie, und zur Abschreckung sind Sanktionen ein probates Mittel. Fakt ist auch: Die Sanktionen seit 2014 waren durchaus schmerzhaft für Russland, auch wenn die Regierung das kleinreden will. Wünschenswert wäre es aber, wenn die Sanktionen etwas differenzierter gehandhabt worden wären, wenn zum Beispiel Fortschritte in der Umsetzung des Minsker Abkommens mit einem schrittweisen Abbau von Sanktionen honoriert worden wären. Das hat der Westen zwar diskutiert, aber nie durchgezogen – schade. Letztlich ist in Moskau so der Eindruck entstanden, dass die Sanktionen ohnehin bestehen bleiben würden.
Das Minsker Abkommen
- Seit April 2014 kämpfen in der Ostukraine von Russland unterstützte Separatisten gegen die ukrainische Armee. Fünf Monate nach Beginn der Kämpfe wurde in Minsk, Belarus, ein erster Waffenstillstand mit einem Friedensplan für die Region um die Städte Luhansk und Donezk unterzeichnet. Nach dem Wiederaufflammen der Kämpfe im Januar und Februar 2015 wurde dieser Plan von 12 auf 13 Punkte erweitert und konkretisiert. Dazu zählt etwa ein Abzug schwerer Waffen von der Frontlinie, der aber nur in Teilen umgesetzt ist. Auch die für die abtrünnige ostukrainische Region vorgesehene Autonomie wurde nicht verwirklicht. Kiew besteht ausserdem darauf, dass es die Kontrolle über den an die Separatisten verloren gegangenen Grenzabschnitt zu Russland erhält – und zwar bevor im Donbass Wahlen abgehalten werden. Der Friedensplan sieht aber erst Wahlen vor, danach eine schrittweise Rückgabe der Kontrolle über den Grenzabschnitt vor. (sda)
Reichen Sanktionen aus? Gerade die baltischen Staaten, die Nato-Mitglieder sind, dürften sich wohl mehr erhoffen, oder?
Es ist natürlich eine unbequeme Lage für die baltischen Staaten, die Russland geografisch sehr nahe sind. Jedoch haben gerade die letzten Monate eine sehr ausgeprägte westliche Solidarität gezeigt. Und es ist klar: Die baltischen Staaten sind Nato-Mitglieder und geniessen als solche den Rückhalt ihrer Bündnispartner im Fall eines Angriffs. Russland wird die baltischen Staaten nicht provozieren – davon bin ich überzeugt. Ein solcher Angriff läge jenseits der russischen Interessen.
Lässt sich ein flächendeckender Krieg in der Ukraine unter diesen Vorzeichen noch abwenden?
Das grösste Risiko geht von einem Vorfall entlang der Kontaktlinien aus – also jenen Gebieten, wo sich ukrainische Armee auf der einen Seite und Separatistentruppen plus vermutlich neu auch russische Soldaten auf der anderen Seite gegenüberstehen. Hier kann nur schon ein Missverständnis zu einer lokalen Eskalation führen. Ein Flächenbrand ist möglich, aber nicht wahrscheinlich. Beide Seiten werden jetzt sehr bemüht sein, sicherzustellen, dass die Situation entlang der Kontaktlinien eben nicht eskaliert.
«Wir haben keine Angst vor Sanktionen»
Passantinnen und Passanten in Moskau begrüssen die Entscheidung ihrer Regierung, die Separatistengebiete in der Ostukraine anzuerkennen.
22.02.2022
Was hat Putin in diesem Konflikt überhaupt zu gewinnen?
Er wird diese Eskalation dem russischen Publikum als Engagement zugunsten der russischsprachigen Minderheiten im Donbass präsentieren. Auch, dass er dem Westen Paroli bietet, wird er ausschlachten. Dieses Narrativ fällt in Russland sicher auf fruchtbaren Boden, schliesslich wurde die Bevölkerung über Wochen und Monate entsprechend vorbereitet.
Welche Möglichkeiten hätte der Westen gehabt, um eine Eskalation zu verhindern?
Das ist schwierig zu beurteilen, da nicht bekannt ist, mit welchen Zielen Putin dieses militärische Muskelspiel gestartet hat. Eine Frage ist aber: Hätte der Westen in den letzten Jahren auf eine konsequentere Umsetzung des Minsker Abkommens beharren sollen, um ein solches Manöver zu verhindern?
Was meinen Sie mit einer konsequenteren Umsetzung?
Die politischen Aspekte der Abkommen: Dezentralisierung, Amnestie für Kämpfer der pro-russischen Separatisten und Wahlen. Wobei man hierbei die Schuld nicht allein den Ukrainern in die Schuhe schieben kann, auch die Russen haben nicht wahnsinnig viel Entgegenkommen gezeigt. Die Russen konnten der Regierung des ukrainischen Präsidenten Wolodymir Selenski nicht aufzeigen, wieso er diese grossen innenpolitischen Konzessionen überhaupt eingehen sollte, was ihm das bringen könnte und wie er dadurch wieder die Kontrolle über die ukrainisch-russische Grenze erlangen würde.
Putin hält die Unruhen in der Ostukraine seit 2014 am Köcheln. Wieso lässt er den Konflikt genau jetzt eskalieren?
Dazu gibt es mehrere Hypothesen. Eine davon: Ihm ist der Geduldsfaden gerissen, weil es mit der Umsetzung des Minsker Abkommens nicht schnell genug vorangeht. Er konnte bei den letzten Gesprächen im Normandie-Quartett – mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, dem deutschen Kanzler Olaf Scholz und Selenski – keine Fortschritte erkennen.
Was wäre eine andere Hypothese?
Putin hat gesehen, dass er bei seiner Kernforderung – den Sicherheitsgarantien bezüglich einer weiteren Nato-Osterweiterung – dank seines militärischen Muskelspiels sehr viel Verhandlungssubstanz auf den Tisch gebracht hat, aber dass das effektive Aushandeln sehr lange dauern würde. Vielleicht brauchte er aber rasche Resultate, die er mit diesem Anerkennungsschritt nun zu erzielen versucht.
Russland will mit den USA weiterverhandeln. Gibt es überhaupt noch etwas zu besprechen?
Das ist eine gute Frage. Zumindest geht Russland wohl noch davon aus, dass man weiterhin verhandeln könne. Wie man das in den USA und anderen westlichen Staaten sieht, werden wir in den nächsten Tagen und Wochen sehen. Was aber feststeht: Die Fronten haben sich weiter verhärtet, das gegenseitige Vertrauen ist weiter gesunken – und die Verhandlungen werden noch schwieriger.