Sicherheitsexperte«Alle früheren Sowjet-Republiken haben Grund nervös zu werden»
Von Philipp Dahm und Oliver Kohlmaier
23.2.2022
Die Welt schaut gebannt nach Südosteuropa, wo der Ukraine-Konflikt täglich neue Eskalationsstufen erreicht. Will Putin sich die ganze Ukraine einverleiben? Politikwissenschaftler James W. Davis im Interview.
Von Philipp Dahm und Oliver Kohlmaier
23.02.2022, 06:45
23.02.2022, 09:15
Philipp Dahm und Oliver Kohlmaier
Ist eine Eskalation des Konflikts eigentlich noch vermeidbar, nachdem Russland die abtrünnigen Regionen Donezk und Luhansk für unabhängig erklärt hat?
Wenn wir uns Putins Rhetorik anhören — ich meine hier seine Rede von gestern sowie den Artikel, den er im vergangenen Juli veröffentlicht hat, müssen wir davon ausgehen, dass er sich die gesamte Ukraine — oder zumindest viel mehr als Donezk und Luhansk — einverleiben wird. Er bestreitet die Existenz einer separaten ukrainischen Identität, behauptet, der Staat Ukraine sei ein künstliches und ahistorisches Gebilde, und verbreitet den Mythos eines fortdauernden Genozids der russischen Minderheit in der Ukraine, welcher von Neonazis durchgeführt werde.
James W. Davis
Foto: Privat
James W. Davis ist Direktor des Instituts für Politikwissenschaft (IPW-HSG) der Universität St. Gallen und Professor für Politikwissenschaft mit besonderer Berücksichtigung der Internationalen Beziehungen. Sein Forschungsgebiet umfasst internationale Sicherheit, Methoden der Politikwissenschaft, politische Psychologie sowie die transatlantischen Beziehungen.
Die ukrainische Führung versucht, besonnen zu reagieren. Was würde passieren, wenn Kiew mobilisiert?
Putin sucht natürlich einen Vorwand für eine Invasion. Sollten die Ukrainer mobilisieren, wird er sagen können, dass er präventiv angreifen musste. Aber wenn Kiew nicht mobilisiert, wird Putin das Land schneller überrollen können. Präsident Selenskyj befindet sich in einem Dilemma.
Was bedeutet Putins Rede für andere Regionen wie Transnistrien, das auch eine Anerkennung erreichen will?
Putin scheint zwischen ehemaligen Teilrepubliken der früheren Sowjetunion und den ehemaligen Verbündeten im Warschauer Pakt zu unterscheiden. Alle Länder, die einst Teil der UdSSR waren, haben Grund nervös zu werden. Doch sind die meisten inzwischen Mitglieder der Nato und dort gilt der Artikel 5. Erst auf der Münchner Sicherheitskonferenz am vergangenen Wochenende hat die US-Vizepräsidentin diesen als «sakro-sankt» bezeichnet.
Wie ist die Lage in den baltischen Staaten und den benachbarten Ländern am Schwarzen Meer?
Es ist wichtig, dass wir neben der Bekräftigung unseres Bekenntnisses zu Artikel 5 unsere Truppenpräsenz verstärken, zumindest bei den Nato-Partnern. Wir können aber natürlich auch jenen Ländern, die nicht zur Nato gehören, helfen, indem wir nachrichtendienstliche Information über russische Truppenbewegungen teilen und wo hilfreich auch Waffen und Munition zur Verfügung stellen.
Was bedeuten die bisherigen Schritte mit Blick auf eine Aufrüstung in ganz Europa?
Wir werden höchstwahrscheinlich mit Nostalgie auf eine Zwei-Prozent-Regel für Nato-Partner zurückblicken.
Ist es angesichts der derzeitigen Eskalation überhaupt noch denkbar, dass die Nato Russland gegenüber Zugeständnisse macht?
Mir ist unklar, welche Zugeständnisse wir machen können. Bevor Putin in Georgien und dann auf der Krim einmarschierte, gab es keine ständige Präsenz ausländischer Nato-Truppen in den ehemaligen Gebieten der Sowjetunion. Und jeder weiss, dass eine Nato-Mitgliedschaft für Georgien und die Ukraine nicht zur Debatte steht. Jetzt fordert er den Rückzug der Nato in die Formationen des Kalten Krieges. Aber er ist derjenige, der seine Truppen nach vorn verlegt hat. Und jetzt, da er dies getan hat, können wir unsere Verpflichtung gegenüber unseren Verbündeten nicht aufgeben.
Was wäre aus Ihrer Sicht ein mögliches Szenario zur Deeskalation?
Das Beste, worauf wir jetzt hoffen können, ist ein eingefrorener Konflikt. Eine ähnliche Situation wie in Transnistrien, Südossetien und Abchasien. Putin würde die sogenannten unabhängigen Republiken besetzen und den Rest der Ukraine ständig bedrohen, was die Handlungsfreiheit von Kiew mehr oder weniger einschränken würde.