Neonazis suchen Aufmerksamkeit «Junge gehen eher zur Tat über»

Von Andreas Fischer

21.6.2022

Corona-Demo in Bern am 22. Januar: Die rechtsextreme Gruppierung «Junge Tat» setzt sich an die Spitze des Demonstrationszuges.
Corona-Demo in Bern am 22. Januar: Die rechtsextreme Gruppierung «Junge Tat» setzt sich an die Spitze des Demonstrationszuges.
Bild: Keystone/Stringer

Demos, Provokationen, Konzerte: Rechtsextreme zeigen sich in der Schweiz immer häufiger öffentlich. Extremismusforscher Dirk Baier von der ZHAW erklärt, warum sich Neonazis nicht mehr verstecken.

Von Andreas Fischer

Am vergangenen Freitag verhinderte die Kantonspolizei St. Gallen ein Treffen Rechtsextremer aus der Schweiz und Deutschland in Kaltbrunn SG. Tags darauf trafen sich mehr als 50 Neonazis in einem Pfadiheim in Rüti im Zürcher Oberland. Auch hier schritt die Polizei ein und wies etwa zwei Dutzend Teilnehmer weg. Mehr als 30 weitere konnten nicht weggewiesen werden: Sie waren zu betrunken, um Auto zu fahren.

Neonazis zeigen sich in der Schweiz immer häufiger öffentlich. Die beiden Ereignisse vom Wochenende passen in einen Trend. Bei Demos und Kundgebungen gegen Corona-Massnahmen dürfen Rechtsextreme ungestört Flagge zeigen und Flugblätter verteilen, in Bern kapern sie am 22. Januar den Demozug gleich ganz und führen ihn an.

Mitte Februar lieferten sich Rechtsextreme am Zürcher HB Auseinandersetzungen mit Antifa-Aktivisten. Zwei Monate später provozieren sie in Zürich mit einem Transparent an einem Baukran den 1.-Mai-Umzug.

Neonazis suchen neu die Aufmerksamkeit

Klar: Weg waren sie nie, aber jetzt sind die Rechtsextremen auch wieder vermehrt sichtbar. Dieser Eindruck täuscht nicht, bestätigt Extremismusforscher Dirk Baier vom Institut für Delinquenz und Kriminalprävention der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) im Gespräch mit blue News: «In der Vergangenheit war der Schweizer Rechtsextremismus klandestin. Das heisst, man hat sich im Verborgenen getroffen und wollte die öffentliche Aufmerksamkeit, insbesondere die Aufmerksamkeit von Polizei und Nachrichtendienst, vermeiden.»

Dies habe sich in jüngerer Zeit etwas geändert, schätzt Baier ein. «Es gibt Gruppierungen wie die Junge Tat, die Aufmerksamkeit über Aktionen erhalten, zum Beispiel über Videos in den sozialen Medien, über Zoom-Bombings oder Demonstrationsteilnahmen während der Corona-Proteste.»

Ein Grund dafür: Die rechte Szene ist jünger und damit «auch sichtbarer geworden, weil junge Menschen eher zur Tat übergehen». Baier geht allerdings davon aus, «dass es sich nicht um eine grosse Bewegung handelt – wenige Aktive können hier schon eine Sichtbarkeit herstellen». Zudem gebe es bislang keine schweren Gewaltvorfälle, «wie das aus Deutschland bekannt ist».

Die Alt-Nazis werden abgelöst

Dass sich mit der Partei Pnos im Februar eine der bekanntesten rechtsextremen Gruppierungen in der Schweiz auflöste, habe keine bedeutsamen Auswirkungen auf die Szene gehabt, schätzt Baier ein. «Die Pnos wurde im Wesentlichen vom Engagement älterer Rechtsextremer getragen. Sie war nicht attraktiv für junge Menschen, die generell wenig mit einem Engagement in und für Parteien anfangen können.»

Die Auflösung sei ein Indikator dafür, «dass diese Form des Rechtsextremismus in der Schweiz keine wirkliche Bedeutung mehr hat». Heute bestimmen andere das Bild. Sichtbar seien Gruppierungen wie die Junge Tat oder vorher die Eisenjugend, so Baier.

«Dies bedeutet aber nicht, dass es sich um die einzigen rechtsextremen Gruppierungen handelt. Die Szene ist derzeit veränderlich; es treten immer wieder auch kleinere Gruppen in Erscheinung.» Insgesamt sei die Situation in der Schweiz nicht ganz klar und übersichtlich, weil «zudem auch immer wieder Personen aus Deutschland die Schweiz als Rückzugs- oder Treffort nutzen».

«Je grösser die Szene, desto gefährlicher ist sie»

Baiers Einschätzung zufolge ist das Risiko schwerer Gewalt aus der Szene heraus derzeit eher gering. Der Extremismusforscher schätzt die Bedrohung weniger stark ein als etwa in Deutschland.

«Unterschätzen sollte man die Szene aber hierzulande keinesfalls», warnt Baier. «Die wesentliche Gefahr derzeit ist, dass die Szene durch ihre Sichtbarkeit weitere interessierte junge Leute anspricht und damit zahlenmässig weiter wächst. Je grösser die Szene wird, umso gefährlicher wird sie dann auch, weil sie sich weiter radikalisieren kann.»