War's das mit Corona? Experten sehen die Rückkehr zur Normalität skeptisch

Von Oliver Kohlmaier

18.3.2022

Ende März gibt es weitere Öffnungsschritte, unter anderem entfällt die Maskenpflicht im ÖV.
Ende März gibt es weitere Öffnungsschritte, unter anderem entfällt die Maskenpflicht im ÖV.
Keystone/Laurent Gillieron (Symbolbild)

Derzeit zeigen alle Corona-Indikatoren in der Schweiz nach oben — knapp zwei Wochen vor neuen Lockerungen. Wie ist die Lage einzuschätzen und was ist jetzt zu tun? blue News hat mit zwei Experten gesprochen.

Von Oliver Kohlmaier

Während der Krieg in der Ukraine die Schlagzeilen bestimmt, rücken steigende Fallzahlen die Dauerkrise Corona wieder etwas mehr in den Blickpunkt.

Ende März steht der letzte Öffnungsschritt an, die Isolationspflicht entfällt, zudem die Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr. 

Unterdessen meldet das BAG am Mittwoch innerhalb von 24 Stunden 36'041 neue Coronavirus-Ansteckungen sowie 20 neue Todesfälle und 168 Spitaleinweisungen. Damit sind die Fallzahlen innert Wochenfrist um 6,8 Prozent gestiegen. Die Spitaleinweisungen legten mit 15,1 Prozent sogar mehr als doppelt so schnell zu.

Der Bundesrat hatte angekündigt, bei den Lockerungsschritten auch die jeweils aktuelle epidemiologische Lage und insbesondere die Belastung des Gesundheitssystems zu berücksichtigen. Nun drängt sich die Frage auf, ob die Politik den Zeitplan anpassen könnte oder sollte.

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Alles zeigt nach oben

Fakt ist: Knapp zwei Wochen vor dem nächsten grossen Öffnungsschritt zeigen alle Indikatoren wieder steil nach oben.

Die wissenschaftliche Taskforce des Bundes deutete schon Anfang März an, dass der Anstieg der Fallzahlen auf die Öffnungsschritte von Mitte Februar sowie die Verbreitung des Subtyps BA.2 zurückzuführen sei.

Auch zwei Wochen später hat sich an dieser Einschätzung nichts geändert. Die Fallzahlen steigen demnach seit drei Wochen — ein Trend, der sich auch in Abwasserproben beobachten lasse. Der Subtyp BA.2 sei inzwischen dominant, heisst es in der aktuellen epidemiologischen Lagebeurteilung.

Sorgen bereiten hierbei vor allem die Spitaleintritte, die in stärkerem Masse steigen, sowie die noch immer weitgehende Unklarheit bei den Langzeitfolgen.

In einem ihrer letzten Lageberichte schreiben die Expert*innen: «Der Anstieg der Fallzahlen betrifft am stärksten die Altersgruppen der über 60-Jährigen. Im Einklang mit dieser Entwicklung der Fallzahlen steigen die Hospitalisierungen signifikant an.»

Wie es weiter heisst, scheinen sowohl Ausbreitung von BA.2 als auch die Öffnungen vom Februar «beachtlich zu dem erneuten Anstieg der Infektionen beizutragen».

Aufeinanderfolgende Infektionen

Nun mehren sich die Stimmen, das weitere Vorgehen angesichts der epidemiologischen Lage zu überdenken und Vorsicht walten zu lassen. In den Blickpunkt gerät dabei insbesondere die Belastung des Gesundheitssystems.

Die Gefahr einer abermaligen Überlastung der Spitäler sei zwar nur schwer abzuschätzen, sagt der Virologe Andreas Cerny von der Klinik Moncucco in Lugano auf Anfrage von blue News, fügt aber hinzu: «Ich denke, bei anhaltend hohen Fallzahlen und weiteren Öffnungen wie etwa dem Wegfall der Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr besteht diese Gefahr.»

Cerny gibt vor dem Hintergrund des nunmehr dominanten Subtypus BA.2 zu bedenken: «Wir beobachten, dass sich Menschen nach einer Infektion mit dem Omikron-Subtyp BA.1 in der Folge auch mit dem Subtyp BA.2 infizieren können.» In der Regel verlaufe die Erkrankung jedoch mild — zumindest bei geimpften Personen, die keiner Risikogruppe angehören.

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In diesem Zusammenhang plädiert Cerny dafür, die anstehenden Lockerungen Ende März zu verschieben. Er fordert den Bundesrat auf, sich an seine eigene Ansage zu halten. Schliesslich sei kommuniziert worden, bei den jeweiligen Öffnungsschritten auch die epidemiologische Lage zu berücksichtigen.

Gerade für Risikogruppen stelle die vergleichsweise milde Omikron-Variante nach wie vor eine Gefahr dar. Es gelte daher auch weiterhin, Rücksicht zu nehmen, sagt Cerny und erklärt im Hinblick auf die Diskussion um den Wegfall der Maskenpflicht: «Ich rate meinen Risikopatient*innen, in öffentlichen Innenräumen stets eine Maske zu tragen, auch wenn sie dafür schief angeschaut werden.»

«Ich verstehe das nicht und ich bedaure es sehr»

Die grosse Unbekannte sei, wie lange der Immunschutz bei mindestens doppelt geimpften Personen andauere, die zudem eine Omikron-Variante durchgemacht haben. Hierzu fehlten der Forschung noch Daten.

Deshalb kritisiert Andreas Cerny im Gespräch auch die Abschaffung der wissenschaftlichen Taskforce des Bundes: «Ich verstehe das nicht und ich bedaure es sehr.»

Schliesslich, so erklärt Cerny weiter, sei die Taskforce ein bedeutender Pfeiler in der Pandemiebekämpfung und fügt hinzu: «Ich bezweifle, dass die Mitglieder der Taskforce auf eigenen Wunsch aufgehört haben, wie dies vom Bundesrat dargestellt wurde.»

«Die Gesellschaft hat sich für Öffnungen entschieden»

Jürg Utzinger, Direktor des Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Instituts, schätzt die Gefahr einer Überlastung der Spitäler in der aktuellen Welle als gering ein: «Ich sehe hier keine grosse Gefahr. Die aktuell hohen Fallzahlen mussten aufgrund der Aufhebung der meisten Massnahmen erwartet werden und die Bevölkerung ist darauf vorbereitet», sagt Utzinger zu blue News.

Dennoch rät der Epidemiologe zur Wachsamkeit. Man müsse die Lage weiterhin gut beobachten, gerade im Hinblick auf eine mögliche neue Variante: «Wir müssen jederzeit bereit sein, agil und schnell zu reagieren, denn die Pandemie ist noch nicht vorbei.»

Die Omikron-Variante ziehe vergleichsweise milde Erkrankungen nach sich. «Die Massnahmen wieder zu verschärfen, ist zurzeit nicht angezeigt und wäre gesellschaftspolitisch kaum zu rechtfertigen, allenfalls besteht die Möglichkeit, die Maskenpflicht im ÖV vorerst noch beizubehalten», meint Utzinger.

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Insgesamt habe sich die Gesellschaft für die Öffnungsschritte entschieden. Risiken bestehen dem Wissenschaftler zufolge aber beim Thema Long Covid, «wo es nach wie vor viele offene Fragen gibt».

Die Bevölkerung, aber auch Betriebe müssten sich zudem ihrer Eigenverantwortung bewusst sein: «Bei uns am Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Institut haben wir uns etwa entschlossen, das Maskentragen über die gesetzlichen Bestimmungen hinaus strikter zu handhaben, insbesondere wenn der Abstand von 1,5 Metern nicht eingehalten werden kann.»

Was ist Deltakron?

Während die Omikron-Welle mit ihren relativ milden Verläufen gleichsam ihren zweiten Höhepunkt erreicht, stellt sich die Frage, wie gefährlich die nächste Variante werden wird.

In den vergangenen beiden Jahren hat sich gezeigt, dass sich das Infektionsgeschehen im Sommer als weniger dynamisch erweist – allerdings auch, dass anschliessend bereits die nächste Welle vor der Tür steht, möglicherweise auch mit einer neuen Mutation.

Auch Mischformen zweier Varianten gab es in den beiden Pandemiejahren bereits häufiger. In diesem Zusammenhang taucht dieser Tage vermehrt die inoffizielle Bezeichnung «Deltakron» auf.

Sowohl in den USA als auch in Europa sind Infektionen mit dem Mischtyp zwischen Omikron- und Delta-Variante aufgetaucht, sie war Anfang Februar bereits auf eine Beobachtungsliste gesetzt worden.

Der Virologin Etienne Simon-Loriere zufolge bestehe derzeit jedoch kein Grund zur Sorge, wie sie der «New York Times» sagte. Zum einen sei die Variante noch extrem selten und zeige keine Anzeichen von exponentiellem Wachstum. Zum anderen sei die Oberfläche der Variante jener von Omikron «superähnlich», sodass der Schutz durch Impfung, Infektion oder beides auch hier wirksam sei.