Trotz Rekordinfektion Putin lockert Corona-Auflagen: Was steckt wirklich dahinter?

tafi/dpa/AFP

12.5.2020

In Russland steigt die Anzahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus auf einen Rekordwert: Präsident Wladimir Putin kündigt am selben Tag den Anfang vom Ende der Einschränkungen an. Hinter den Lockerungen steckt ein anderes Kalkül.

Die Verantwortung für die Einzelheiten, die wies Wladimir Putin den Gouverneuren zu: Russlands Präsident selbst beschränkte sich darauf, die (vermeintlich) guten Nachrichten zu verkünden. Nach wochenlanger Zwangspause soll die russische Industrie wieder arbeiten dürfen. Das verkündete Putin am Montagabend in einer Fernsehansprache. Der landesweit verordnete bezahlte Urlaub endet am heutigen Dienstag.

Mit den von Putin angekündigten Lockerungen darf zum Beispiel in Moskau auf Baustellen und in Industriebetrieben wieder gearbeitet werden. Es sei unbedingt erforderlich, Arbeitsplätze zu erhalten und die Wirtschaft am Laufen zu halten – wobei sich die Angestellten strikt an die Hygienevorschriften halten müssten.

Putins Verkündung erfolgte ausgerechnet an dem Tag, an dem Russland einen Tagesrekord bei Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 verzeichnen musste. Etwa 11'600 Neuinfizierte waren am Montag registriert worden, teilte die zuständige Regierungskommission mit. Mehr als die Hälfte davon sei in Moskau festgestellt worden. Die Gesamtzahl der Infizierten stieg auf mehr als 221'000, etwa 2'000 von ihnen sind gestorben.

Der Kampf gegen die Corona-Pandemie sei noch nicht zu Ende, warnte der Kremlchef als er das Ende der wegen des neuen Coronavirus verhängten landesweiten Auflagen verfügte. Den «Schwarzen Peter» schob er elegant den Gouverneuren zu. Die müssten selbst entscheiden, welche Industriebetriebe in ihrer Region wieder arbeiten dürfen.

Der russische Präsident Wladimir Putin hat die landesweit verordnete arbeitsfreie Zeit für beendet erklärt. Die Probleme aber bleiben.
Der russische Präsident Wladimir Putin hat die landesweit verordnete arbeitsfreie Zeit für beendet erklärt. Die Probleme aber bleiben.
Maxim Shemetov/Pool reuters/AP/dpa

Verschanzt wie im Bunker

Die Delegierung unliebsamer Entscheidungen nach unten hat Methode in der Corona-Krise. Putin, der in seiner Moskauer Vorstadtresidenz Nowo-Ogarjowo wie in einem Bunker sitzt, agiert in der Krise nach Meinung vieler Russen auffällig defensiv. Der 67-Jährige gibt nur noch den Rahmen vor, etwa den jetzt beendeten Zwangsurlaub. Ausgangssperren samt knallharter Strafandrohungen und strenger Polizeikontrollen überlässt er aber den Regionen.



Putins Zustimmungswerte sind deshalb im Sinkflug, wie Umfrageinstitute ermittelten. Ausserdem macht sich Proteststimmung breit – bisher meist im Internet, weil Strassenaktionen verboten sind. In sozialen Netzwerken wimmelt es von Posts verzweifelter Menschen, die nicht wissen, wie sie über die Runden kommen sollen. Vielerorts gibt es Hilfspakete, ein Gouverneur bot nun Ferkel und Kartoffeln an.

Putin selbst werde zum «Feind» der von ihm immer wieder beschworenen Stabilität, beobachtet der Politologe Andrej Perzew von der Moskauer Denkfabrik Carnegie Center: «Putin wird zum Anti-Putin.» Fast hilflos muss der Kremlchef den massiv steigenden Infektionszahlen in der Corona-Krise zuschauen.



Die Russen erleben ihren nationalen Anführer, wie er offiziell genannt wird, ungewöhnlich kleinlaut. Wenig erinnert an den Putin, der schon mit sibirischen Kranichen am Himmel flog, der sich mit nacktem Oberkörper oder als siegender Judoka – also immer wieder als eine Art Supermann – in Szene setzen liess.

Hilferufe aus der Bevölkerung

Verbreitet sind nun Hilferufe verzweifelter Bürger und Unternehmer, Putin möge seine «Schatztruhe» öffnen. Russland gehört zu den Ländern mit den grössten Geld- und Goldreserven der Welt. Die Enttäuschung auch unter Putins Anhängern sei gross, weil der Kommandeur nicht «auf einem feurigen Pferd voran reitet», sagt der Oppositionelle Leonid Gosman. So sei es in einem autoritären System eigentlich üblich. Doch viele Russen vermissen demnach Führungsstärke und Entscheidungsfreude.



Putins Ankündigung, dass der bezahlte Urlaub nun endet, wirkt wie ein verzweifelter Versuch, sein Image aufzupolieren. In seiner Rede beschränkte er sich auf die guten Nachrichten, auf das positive Signal für eine schrittweise und «sehr gewissenhafte» Lockerung der Corona-Beschränkungen.

Russland habe die Zeit der Ausgangsbeschränkung genutzt, um sein Gesundheitssystem vorzubereiten, die Zahl der Krankenhausbetten zu erhöhen und «viele Tausende von Leben» zu retten, sagte Putin. Demnach wurde die Zahl der für Covid-19-Patienten geeigneten Krankenhausbetten seit März von 29'000 auf 130'000 erhöht. Dies ermögliche dem Land, «mit einer allmählichen Aufhebung der Beschränkungen zu beginnen».

Kein klarer Plan

Es liege «in unser aller Interesse, dass sich die Wirtschaft schnell wieder normalisiert», fügte Putin hinzu. Einen klaren Plan, wie und wann die Auflagen gelockert werden, den liess der Präsident aber vermissen. Darum müssen sich jetzt die Gouverneure kümmern.



Die russische Tageszeitung «Kommersant» kommentierte das heute so: «Die rein russische Anordnung der arbeitsfreien Tage ist nicht verlängert worden. Das bedeutet aber nicht, dass jeder zwangsläufig nun zur Arbeit zurückkehren wird: Ein neues Dekret von Präsident Wladimir Putin weist die regionalen Verantwortlichen an, den Betrieb von Unternehmen aller Art und Verkehrsströme zu stoppen oder einzuschränken, um eine Ausbreitung der Corona-Epidemie einzudämmen.»

Tatsächlich könnten sich elf Landesteile eine Lockerung leisten, weitere 22 sind nahe dran. Moskau und die Hauptstadt-Region aber stünden definitiv nicht auf dieser Liste.

Die Coronavirus-Krise – eine Chronologie

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