US-Korrespondentin schätzt die Lage ein«Trump hat richtig viel zu verlieren»
Philipp Dahm
4.11.2024
Helene Laube berichtet für blue News aus den USA: Die Schweizerin spricht im Interview über die Gefühlslage vor der Wahl, zählt die wichtigsten Themen auf und verrät, für wie hoch sie das Potenzial für Gewalt hält.
Philipp Dahm
04.11.2024, 05:00
04.11.2024, 21:18
Philipp Dahm
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Helene Laube lebt seit 24 Jahren in San Francisco und berichtet für blue News aus den USA.
Die Zürcherin beschreibt das Leben in der Bay Area – und welche Rolle Politik in ihrem Leben spielt.
Die Korrespondentin erklärt die Polarisierung im Land – und welche Themen die Menschen bewegen.
Laube wagt eine Prognose, wie lange wir auf das Ergebnis warten müssen und wie Trump reagieren wird, falls er verliert.
Helene, wann bist du aus welchem Grund in die USA gezogen?
Das ist schon eine Weile her. Ich bin im Oktober 2000 hier in San Francisco gelandet. Die «Financial Times Deutschland» (FTD) hat mich als Korrespondentin hierher entsandt, und die Zeitung wurde ja leider 2012 eingestellt – ich bin geblieben. Eine meiner ersten Geschichten damals war die Präsidentschaftswahl zwischen Al Gore und George W. Bush.
Über das Wahlergebnis wurde im Jahr 2000 ja lange gestritten.
Bush gewann damals mit einer Differenz von knapp 540 – bis heute umstrittenen – Stimmen in Florida. Die Entscheidung hat ewig gedauert, ich glaube, es waren fünf Wochen. Und zum Schluss entschieden nicht die Wählenden den nächsten Präsidenten, sondern die neun Richter des Obersten Gerichtshofs der USA. Das deutete voraus auf die Kämpfe um die Wahl 2020 und wohl auch um diese Wahl.
Hast du nur in Kalifornien gelebt oder warst du auch woanders?
Ich habe seit 2000 immer hier in der Bay Area in verschiedenen Vierteln in San Francisco gelebt – und auch mal in Sausalito, also auf der anderen Seite der Golden Gate Bridge. Aber ich bin für meine Arbeit viel rumgereist.
Beschreibe doch bitte mal das Viertel, in dem du jetzt lebst.
Das Viertel heisst Buena Vista und grenzt an Haight-Ashbury, das bei Touristen ja besonders beliebt ist. Das kennen wahrscheinlich auch viele der Lesenden. Hier sieht es immer noch ein bisschen aus wie damals im Summer of Love – mit vielen Secondhandläden und Geschäften, in denen man Cannabis-Pfeifen kaufen kann. Es gibt auch immer noch ein paar versprengte Hippies, aber heute ist das Viertel ziemlich gentrifiziert.
Wer lebt heute dort?
Viele Gutverdiener, Tech-Bros, Familien, vorwiegend junge Leute. Ganz San Francisco und die Bay Area sind extrem teuer. Ein paar Leute halten sich noch hier wegen der Mietpreisbindung. Ich kann auch nur hier leben, weil ich seit x Jahren keine oder nur geringe Mieterhöhungen bekommen habe. Die regulären Marktpreise können viele Leute nicht bezahlen.
US-Wahlen 2024 im Fokus
Amerika wählt am 05. November einen neuen Präsidenten. Aber nicht nur der Präsident, sondern auch 35 Senatssitze, das komplette Repräsentantenhaus sowie elf Gouverneure werden neu gewählt. blue News begleitet die heisse Phase des Duells um das Weisse Haus nicht nur mit dem Blick aus der Schweiz, sondern auch mit Berichten direkt aus den USA.
Patrick Semansky/AP/dpa
Ist es gefährlich?
Nein, es gibt hier viele nette Ecken und ich habe keine Angst, auf die Strasse zu gehen. Entgegen der Berichterstattung in vielen überregionalen Medien und der internationalen Presse gibt es hier keinen einzigen Open-Air-Drogenmarkt. Und es liegen nicht überall Wohnungslose auf der Strasse oder greifen Passanten an.
Das tönt nach einem sehr liberalen Quartier: Hast du in deinem Bekanntenkreis Leute, die Trump unterstützen?
Nein. Ich will aber nicht ausschliessen, dass ich Leute kenne, die Trump wählen, es aber nicht kundtun.
Ist Politik in dem Kreis, in dem du dich bewegst, oft ein Thema?
Ja, eigentlich schon immer, aber seit 2016 noch viel mehr. Die Leute sind super angespannt, frustriert, verunsichert und besorgt, dass Trump gewinnt und die USA und die ganze Welt im Chaos versinken. Die Nervosität und Angst sind spürbar. Umfragen zeigen, dass das aber auch auf der republikanischen Seite so ist. Die sind auch nervös und haben Angst vor den «radikalen Demokraten» und dem Ende der USA.
Wie stark ist die Polarisierung? Gibt es noch eine Hoffnung auf Konsens?
Ich würde sagen, dass es den politischen Konsens noch gibt, aber es herrscht Uneinigkeit darüber, wie stark der ist. Es gibt Themen, bei denen viele Demokraten und viele Republikaner durchaus gleicher Meinung sind. Ein Beispiel dafür wäre das Recht auf Abtreibung, das von einer deutlichen Mehrheit der Wählenden beider Parteien befürwortet wird. Oder das Verbot von grossen Magazinen für die AR-15, also für die halbautomatischen Maschinengewehre, die hier so beliebt sind.
Aber?
Das Problem ist, dass deutlich weniger Republikaner als Demokraten der Meinung sind, dass Waffengewalt ein grosses Problem ist, das ganz oben auf die Agenda gehört. Die republikanischen Wählenden forcieren keine entsprechende Gesetzgebung.
Warum ist das Land denn so gespalten?
Ich würde es eine Wahrnehmungskluft nennen: Die meisten Anhänger beider Parteien irren sich, was die Präferenzen der Wähler der anderen Partei angeht. Sie glauben, dass es weit weniger gemeinsame politische Überzeugungen gibt, als tatsächlich vorhanden sind. Diese Lücke ist bei den Menschen am grössten, die am stärksten politisch engagiert sind. Sie haben das verzerrteste Bild von den Überzeugungen der anderen Seite. Aber die meisten Amerikaner*innen, die nicht in einer demokratischen Blase wie San Francisco oder New York City leben, müssen irgendwie klarkommen mit ihren anders wählenden Eltern, Nachbarn, Lehrern ihrer Kinder oder Ärzten.
Welche Themen bewegen am meisten?
Bei den Demokraten stehen Gesundheitswesen und reproduktive Rechte inklusive Abtreibungsrechte sowie die Wirtschaft ganz weit oben. Aber auch Klimawandel, Umweltpolitik und Waffengesetze spielen eine wichtige Rolle. Und die Demokratie, weil diese Leute einfach Angst haben, dass wir hier in den Faschismus abdriften.
Und auf der Gegenseite?
Bei Trump-Wählern sind es Wirtschaft, Inflation und Grenzsicherheit. Immigration ist für beide Seiten ein wichtiges Thema, aber die Lösungsansätze und vor allem die Rhetorik sehen anders aus.
Und nun die Kardinalfrage: Wer gewinnt die Wahl?
Eine Prognose abzugeben, ist unmöglich. Es ist zu knapp.
Rechnest du denn mit einer Hängepartie oder gibt es schnell ein Ergebnis?
Schwer zu sagen. Es ist beides denkbar. Die ersten Hinweise kommen kurz nach 19 Uhr aus Georgia, also um 4 Uhr am Mittwochmorgen bei euch. Und dann eine halbe Stunde später aus North Carolina. Wenn Harris in diesen beiden Swing States gut abschneidet, könnte das darauf hindeuten, dass das Ergebnis nicht so stark von Staaten wie Michigan oder Pennsylvania abhängt, die viel langsamer auszählen. Es hängt auch davon ab, wie schnell die Briefwahlzettel ausgezählt werden. Verschiedene Staaten lassen zu, dass diese Wahlzettel auch noch nach der Wahl eintreffen und gezählt werden dürfen.
Traust du dir eine Vorhersage zu?
2016 wusste man es ja noch in der gleichen Nacht, und 2020 hat es vier Tage gedauert. Ich glaube, es wird länger dauern.
Was passiert, wenn Donald Trump die Wahl verliert?
Vor vier Jahren hat er sich mit allen Mitteln an die Macht geklammert: Warum sollte er es dieses Mal nicht wieder probieren? Zumal er alle strafrechtlichen Gerichtsverfahren gegen ihn und einen möglichen Aufenthalt im Gefängnis vermeiden könnte, wenn er wieder ins Weisse Haus einzieht. Trump – ein verurteilten Straftäter – hat richtig viel zu verlieren, und seine Verbündeten und er bereiten alles vor, um die Wahlresultate juristisch und auf andere Weise anzufechten. Vor allem, wenn der Ausgang sehr knapp ist, muss man mit allem rechnen.
Aber?
Vor vier Jahren war Trump noch an der Macht. Heute unterstehen Militär und das Justizministerium Joe Biden. Trump bräuchte auch sehr viel Unterstützung von Politikern in den Bundesstaaten und im US-Kongress. Viele verweigerten sich ihm 2020. Es dürfte sehr schwierig für ihn werden, nochmal wie vor vier Jahren vorzugehen.
Wie beurteilst du denn das Potenzial für Gewalt?
Als relativ hoch. Die Rhetorik eskaliert, die Amerikaner haben sich noch mehr bewaffnet. Ein signifikanter Anteil der Bevölkerung normalisiert Gewalt, um politische Ziele zu erreichen. Es gibt Umfragen, in denen sechs, sieben, acht Prozent der Amerikaner die Anwendung von Gewalt unterstützen. Nicht nur, um Trump wieder ins Amt zu bringen, sondern auch, um ihn zu verhindern.
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