Militärexperte über Russlands Armee «Putin kann den Krieg gewinnen»

uri

4.5.2022

Die Meldungen vom schlechten Zustand der russischen Armee und ihren langsamen Fortschritten könnten täuschen. Im Donbass seien Putins Truppen mit einer geänderten Strategie unterwegs, erklärt ein Experte.

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Regelmässig teilen die britischen Geheimdienste ihre Erkenntnisse zum Zustand der russischen Armee. Und häufig fallen diese wenig schmeichelhaft aus. So teilte London am Dienstag wieder mit, dass die Russen ihre Kampfstärke nicht in entscheidende Vorteile in der Ukraine hätten umwandeln können.

Aufgrund strategischer Fehler und Mängel bei der Umsetzung sei das russische Militär inzwischen deutlich schwächer als zu Beginn des Krieges – und das sowohl hinsichtlich ihrer Ausrüstung als auch konzeptionell. Die Geheimdienste erwarten zudem einen langfristigen negativen Effekt auf Moskaus Kampfstärke in Bezug auf konventionelle Waffen und die Truppen.

Diese Einschätzung deckt sich immerhin mit einem erklärten strategischen Ziel der USA. Nach einem Besuch in Kiew vor einer guten Woche sagte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin: «Wir wollen Russland in dem Ausmass geschwächt sehen, dass es die Art von Dingen, die es mit dem Einmarsch in die Ukraine getan hat, nicht mehr machen kann.»

«Wir dürfen Russland nicht unterschätzen»

Vor einer – aus westlicher Optik – zu optimistischen Sicht auf den Zustand der russischen Streitkräfte warnt indes der Leiter der Abteilung Forschung und militärische Strategie an der Theresianischen Militärakademie in Wien und Oberst im österreichischen Verteidigungsministerium Markus Reisner.

Der «Welt» sagte der Experte, man brauche ein objektives Lagebild. Es helfe nicht, wenn man sich den Zustand der Angreifer schönrede, denn das täusche über die tatsächliche Lage hinweg. «Die Russen sind sehr wohl in der Lage, zu entscheiden, wann, wo und wie sie zuschlagen. Wir dürfen Russland nicht unterschätzen», sagt Reisner.

Russische Panzerwagen rücken Mitte April im Osten der Ukraine vor. (Archiv)
Russische Panzerwagen rücken Mitte April im Osten der Ukraine vor. (Archiv)
Bild: Keystone

Der gemäss der Zeitung durch verschiedene Quellen gut informierte Offizier erwartet in den nächsten Wochen eine weitere Eskalation der Kämpfe im Donbass. Hier werde Russland versuchen, «eine Entscheidung herbeizuführen, die Ukrainer einzukesseln und zur Kapitulation zu zwingen».

Schwere Waffen kommen zu spät

Um zu bestehen, benötige die Ukraine dabei dringend neue Waffen aus dem Westen, erklärte Reiser. Die Lieferung schwerer Waffen habe jedoch zu spät begonnen, um noch rechtzeitig im Donbass anzukommen. Die benötigten Artillerieaufklärungsradargeräte, Panzer, Artilleriegeschütze, Flugzeuge und Flugabwehrsysteme seien zudem gross und würden beim Transport leichte Ziele darstellen.

Bekannt sei zudem, dass Russland bereits viele Waffenlieferungen aus dem Westen erbeuten oder vernichten konnte, sagte Reisner. Der Verschleiss der Ukraine sei hier sehr hoch. Laut US-Angaben würden die vom Westen innerhalb einer Woche gelieferten Waffen innerhalb nur eines Tages verbraucht.

Auch in anderer Hinsicht spielt die Zeit für die Angreifer, zeigt der Experte auf. Die in den ersten Wochen des Krieges an anderer Stelle erfolgreichen ukrainischen Angriffe aus dem Hinterhalt seien nun nicht mehr so erfolgreich, weil die Russen inzwischen darauf vorbereitet seien und ukrainische Spezialkräfte von ihren russischen Gegenspielern häufig vernichtet würden.

Langsamer Vormarsch ist gewollt

Aus diesem Grund seien die Versorgungslinien für die russische Offensive im Donbass – im Gegensatz zur Situation in der Region Kiew in der ersten Phase des Krieges – auch noch intakt. Zudem feuere die russische Artillerie derzeit im Donbass in der Nacht massiv auf die Stellungen der Ukraine, um sie abzunutzen und tagsüber anzugreifen.

Die russischen Einheiten würden nun anders als noch in den ersten sechs Wochen nicht mehr schnell und in Kolonne vorrücken, sondern «langsam, breit und mit massiver Infanterieunterstützung». Abgesichert werde der Vormarsch durch weitere Panzerzüge. Auf diese Weise kämen die russischen Einheiten zwar nur mit rund 1,5 Kilometern pro Stunde voran, doch das sei gewollt und kein Zeichen von Schwäche, erklärt der Militär.

Bei einer Einnahme des Donbass durch die Russen vermutet Reisner zunächst eine Kampfpause, in der sich beide Seiten erholen und neu aufstellen würden. Der Krieg werde im Sommer nicht zu Ende sein, ist sich Reisner sicher. Die bittere Wahrheit sei zudem: «Putin kann den Krieg gewinnen», wie er der «Welt» sagte. Gewinnen bedeute in diesem Fall, «dass Putin nach diesem Waffengang substanziell mehr von der Ukraine besitzt als vorher.»