Russische Armee in Bedrängnis Putins Verluste sind so hoch, dass die Mobilmachung droht

Von Philipp Dahm

3.5.2022

USA: Russland will «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk annektieren

USA: Russland will «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk annektieren

Russland will nach Einschätzung der USA in Kürze die selbsternannten «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine annektieren. Das sagte der US-Botschafter bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Micha

03.05.2022

Moskau fällt es schwer, seine kampfunfähigen Soldaten adäquat zu ersetzen. Auch beim Kriegsgerät sieht es schlecht aus, was Russland um Jahre zurückwerfen könnte. Kommt nun die Mobilmachung?

Von Philipp Dahm

Auf dem Papier haben die russischen Streitkräfte 900'000 bis eine Million Mitglieder. Das aktive Militärpersonal der Ukraine soll 245'000 Mann betragen. Doch diese Angaben beziehen sich nicht nur auf Bodentruppen, sondern beinhalten auch jene, die in der Marine, der Luftwaffe und der Raketen-Truppe dienen.

Tatsächlich stehen Moskau auf den Schlachtfeldern der Ukraine geschätzt 280'000 Armee-Angehörige, 50'0000 Luftlande-Truppen und 35'000 Marine-Infanteristen zur Verfügung – und von diesen 335'000 Soldaten müssen noch circa 30 Prozent Wehrpflichtige und die Verluste abgezogen werden, die Russlands Offensive bisher gefordert hat.

Soldaten proben am 28. April in St. Petersburg für die Parade in Moskau: Am Tag des Sieges wird der Aufmarsch dort wegen des Ukraine-Krieges um 35 Prozent kleiner ausfallen als geplant.
Soldaten proben am 28. April in St. Petersburg für die Parade in Moskau: Am Tag des Sieges wird der Aufmarsch dort wegen des Ukraine-Krieges um 35 Prozent kleiner ausfallen als geplant.
Keystone

Die Angaben hierzu sind höchst unterschiedlich: Westlichen Angaben zufolge nimmt die Rate der Verluste ab, seitdem sich die Offensive auf den Donbass konzentriert, doch die Zahlen bleiben hoch, meldet «Reuters». Kiew spricht von 23'800 feindlichen Soldaten, die getötet worden sind. Der Kreml räumt 1500 Tote ein. Die zivilen Verluste werden – der Vollständigkeit halber – von der UNO konservativ auf 3153 Tote und 3316 Verletzte geschätzt.

Der britische Geheimdienst geht davon aus, dass Russland 120 sogenannte Battalion tactical groups (BTG) aufgestellt hat, in denen verschiedene Truppengattungen wie Panzer, Infanterie, Artillerie und Flugabwehr zusammengefasst und in den Kampf geschickt werden. Das habe knapp zwei Drittel der gesamten Bodentruppen gebunden. Unterstützt werden sie von circa 35'000 Kämpfern aus dem Donbass, die allerdings schlecht ausgebildet und ausgerüstet sein sollen.

«Beste Einheiten» betroffen

Von den 120 BTGs haben die ukrainischen Gegner nicht weniger als ein Viertel kampfunfähig gemacht, so die Analyse des MI6. Das wäre für Moskaus Militär extrem schmerzhaft, weil diese Verluste «einige von Russlands besten Einheiten» beträfen. Besonders die Luftlande-Truppen hätten gelitten, deren Grossteil erfolglos in den Kampf um den Flughafen Kiew-Hostomel verwickelt war.

Nun steht der Kreml vor einem Problem: Wladimir Putin muss die Reihen füllen, während er gleichzeitig versprochen hat, keine Wehrpflichtigen einzusetzen. Ausserdem wollte der Präsident keine Mobilmachung ausrufen, um nicht die Unterstützung der breiten Öffentlichkeit zu verlieren. Angeblich hat Moskau seine Bemühungen nun verstärkt, neues Personal zu rekrutieren und spricht dabei vermehrt Veteranen an.

Hinzu kommt der Verlust an Material: Selbst wenn man davon ausgeht, dass die ukrainischen Angaben stark übertrieben wurden, sind die Zahlen enorm. Auch wenn nur 500 statt der kolportierten 1048 Panzer oder nur 100 statt 194 Flugzeuge zerstört worden sind, muss dieses Kriegsgerät erst einmal ersetzt werden – in einer Wirtschaft, die unter Sanktionen steht.

«Ich brauche mehr russisches Kanonenfutter»

«Putin hat ein Problem: Russland kann seine Kriegsverluste in der Ukraine nicht ausgleichen», titelt dann auch die Fach-Website «19FortyFive». Ob dem so ist, wird sich in naher Zukunft zeigen. Spannend ist aber auch der Blick darüber hinaus: «Es wird für Russland wahrscheinlich Jahre dauern, um diese Kräfte wieder aufzustellen», schreibt der britische Geheimdienst. Ein Grund dafür: Wenn keine Veteranen wiederverpflichtet werden können, nimmt auch das Training der Soldaten Zeit in Anspruch.

Ein weiteres Problem für Moskau ist, dass es nicht alle professionellen Soldaten in die Ukraine schicken kann. An der Grenze zu China kann es sich Russland wohl leisten, deren Zahl stark zu verringern, aber an einem Brennpunkt wie Kaliningrad, Auslandsbasen wie in Armenien oder Syrien und im Fernen Osten an der Grenze zu Japan können nicht bloss Rekruten Dienst schieben. Wie will Putins Armee so bis Transnistrien vordringen?

Ein Traktor passiert am 25. April im Dorf Rusaniw nahe Kiew ausgebrannte russische Schützenpanzer.
Ein Traktor passiert am 25. April im Dorf Rusaniw nahe Kiew ausgebrannte russische Schützenpanzer.
EPA

In diesem Kontext ist es nicht verwunderlich, dass Medien wie CNN über einen neuen Paukenschlag am Tag des Sieges spekulieren. Anstatt wie bisher prognostiziert bis zum 9. Mai den «erfolgreichen» Abschluss der Kampagne zu verkünden, könnte Wladimir Putin der Ukraine offiziell den Krieg erklären – und damit dann doch eine Mobilmachung ausrufen.

«Ich denke, [Putin] wird versuchen, von seinen ‹Spezial-Operationen› abzuweichen», zitiert CNN den britischen Verteidigungsminister Ben Wallace. «Er hat den Rasen ausgerollt und den Boden bereitet, um sagen zu können: ‹Schaut, das ist jetzt ein Krieg gegen Nazis, und was ich brauche, sind mehr Leute. Ich brauche mehr russisches Kanonenfutter.›»