Offensive im Donbass «Es ist die Hölle»

Von Oliver Kohlmaier

19.4.2022

Russische Grossoffensive in der Ostukraine hat offenbar begonnen

Russische Grossoffensive in der Ostukraine hat offenbar begonnen

Die russische Armee hat offenbar ihre seit Wochen erwartete Grossoffensive im Osten der Ukraine gestartet. Nach offiziellen ukrainischen Angaben wurden mehrere Zivilisten im Osten des Land htes getötet.

19.04.2022

Die russischen Streitkräfte haben eine grossangelegte Offensive auf den Donbass gestartet. Die Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Von Oliver Kohlmaier

Die zweite Phase des russischen Angriffskrieges in der Ukraine hat begonnen. «Wir können jetzt feststellen, dass die russischen Truppen die Schlacht um den Donbass begonnen haben, auf die sie sich seit Langem vorbereitet haben», sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Montagabend in einer Videobotschaft.

Die Antworten auf die wichtigsten Fragen zur russischen Offensive im Donbass:

Was ist passiert?

«Die Okkupanten haben einen Versuch unternommen, unsere Verteidigung fast an der gesamten Frontlinie in den Regionen Donezk, Luhansk und Charkiw zu durchbrechen», teilte der Generalstab am Dienstag mit. Sie wollten die Regionen Luhansk und Donezk vollständig unter ihre Kontrolle bringen. 

Die russische Armee hat somit ihre seit Wochen erwartete Grossoffensive im Osten der Ukraine gestartet. Damit sei nun «die zweite Phase des Kriegs» eingeleitet, erklärte der ukrainische Präsidentenberater Andrij Jermak.

Bereits zuvor hatte der Gouverneur der Region Luhansk, Serhij Hajdaj, im Onlinenetzwerk Facebook erklärt: «Es ist die Hölle. Die Offensive, von der wir seit Wochen sprechen, hat begonnen.» Es gebe Kämpfe in Rubischne und Popasna und «unaufhörlich Kämpfe» in anderen bis dahin friedlichen Städten.

Russische Streitkräfte haben in der Nacht nach eigenen Angaben Dutzende Luftangriffe in der Ostukraine geflogen. Das russische Verteidigungsministerium teilte am Dienstag mit, dass «hochpräzise luftgestützte Raketen» 13 ukrainische Stellungen in Teilen des Donbass getroffen hätten, darunter die wichtige Stadt Slowjansk. Bei weiteren Luftangriffen seien «60 militärische Einrichtungen der Ukraine» getroffen worden, darunter auch welche in Städten nahe der östlichen Frontlinie.

Eine ukrainische Flagge an einem Draht liegt auf dem Boden in einem von den prorussischen Separatisten kontrollierten Gebiet in Mariupol.
Eine ukrainische Flagge an einem Draht liegt auf dem Boden in einem von den prorussischen Separatisten kontrollierten Gebiet in Mariupol.
Alexei Alexandrov/AP/dpa

Insgesamt seien in der Nacht 1260 militärische Ziele durch Raketen und Artillerie getroffen worden, teilte das Ministerium weiter mit. Russische Luftabwehrsysteme hätten ausserdem ein ukrainisches MiG-29-Kampfflugzeug in der Region Donezk abgeschossen.

Auch ukrainische Medien berichten von mehreren zum Teil heftigen Explosionen entlang der Frontlinie in der östlichen Region Donezk sowie den Angriffe auf Marinka, Slowjansk und Kramatorsk. Auch in weiteren Städten und Orten heulten demnach die Sirenen. Die Angaben beider Seiten liessen sich bislang nicht unabhängig überprüfen.

Warum konzentriert sich Russland auf den Donbass?

Bereits Ende März hat Russland seinen Strategiewechsel in der Ukraine angekündigt. Aus Moskau hiess es, man habe nun die Ziele im Norden des Landes erreicht und konzentriere sich nunmehr auf die «Befreiung» des Donbass.

Der Donbass ist das überwiegend russischsprachige industrielle Kernland im Osten der Ukraine, in dem von Moskau unterstützte Separatisten seit acht Jahren gegen ukrainische Truppen kämpfen. Sie haben dort zwei unabhängige Republiken ausgerufen, die von Russland vor der Invasion in die Ukraine im Februar anerkannt wurden. Der Kreml hat die Eroberung des Donbass zum Hauptziel seines Krieges erklärt, nachdem der russische Angriff auf Kiew gescheitert war.

Ursprünglich wollte Putin in der Ukraine mit seiner «Spezialoperation» zunächst die gegnerische Luftabwehr ausschalten und schliesslich innerhalb weniger Tage die Hauptstadt Kiew einnehmen und die Regierung stürzen. Bedingt durch Fehleinschätzungen, schwache Kampfmoral der Soldaten, Logistikprobleme und nicht zuletzt aufgrund des erbitterten Widerstands der ukrainischen Streitkräfte ging dieser Plan jedoch gründlich schief.

Sollte nun die Einnahme der gesamten Donbass-Region gelingen, könnte Putin dies daheim noch immer als Sieg verkaufen. Die Eroberung weiterer Teile des Donbass würde es Russland zudem ermöglichen, einen südlichen Korridor zu der 2014 annektierten Krim-Halbinsel herzustellen.

Die Kontrolle des Südostens hätte für Russland noch einen weiteren «Vorteil»: Nach der Annexion der Krim hat die Ukraine den Besatzern buchstäblich das Wasser abgegraben. Die Halbinsel wurde durch Kanäle aus dem Norden mit Wasser versorgt.

Welche Rolle spielt Mariupol?

Die russischen Streitkräfte haben nach Angaben des ukrainischen Generalstabs die Blockade und den Beschuss von Mariupol fortgesetzt. Zudem hat prorussischer Separatisten zufolge die Erstürmung des Stahlwerks Asovstal begonnen.

Mariupol gilt als strategisch wichtige Stadt. Es ist der letzte Zugang für die Ukraine zum Asowschen Meer. Die prorussischen Separatisten, die in den Gebieten Luhansk und Donezk Volksrepubliken ausgerufen haben, hoffen so auf einen dauerhaften Zugang zu den Weltmeeren. Zudem würde eine Landbrücke zwischen Russland und der Halbinsel Krim geschlossen, die vor acht Jahren von Moskau erobert wurde.

Kremlchef Wladimir Putin hatte die Unabhängigkeit der Regionen anerkannt und zu ihrer Unterstützung am 24. Februar eine Invasion in die Ukraine befohlen. Mariupol ist seit dem 1. März vollständig von russischen Truppen eingeschlossen und beinahe komplett erobert. 

Sollte es den russischen Streitkräften gelingen, Mariupol vollständig unter ihre Kontrolle zu bringen, könnten nach Angaben des US-Verteidigungsministers zudem fast ein Dutzend taktischer Bataillone für den Einsatz im Donbas frei werden.

Beschädigte und verbrannte Fahrzeuge stehen in einem zerstörten Teil des Metallurgiekombinats Waldimir Iljitsch Lenin Mariupol.
Beschädigte und verbrannte Fahrzeuge stehen in einem zerstörten Teil des Metallurgiekombinats Waldimir Iljitsch Lenin Mariupol.
Alexei Alexandrov/AP/dpa

Was bedeutet die Offensive für den Verlauf des Krieges?

Auch im Osten haben es die ukrainischen Streitkräfte mit einem Gegner in Überzahl zu tun. Die russische Armeeführung hat in grossem Mass Truppen entlang der Frontlinie konzentriert. Derzeit gebe es 76 russische taktische Bataillonsgruppen in der Donbass-Region und im Südosten des Landes, sagte ein hoher Beamter des US-Verteidigungsministeriums. Elf dieser Gruppen seien allein in den letzten Tagen hinzugekommen.

Solche Battalionsgruppen bestehen üblicherweise aus kombinierten Waffengattungen wie Luftabwehr, Panzern, taktischen Fahrzeugen, Artillerie, Helikoptern sowie logistischer Unterstützung.

Seit Beginn des Krieges bewundert die Welt die militärischen Erfolge der massiv unterlegenen ukrainischen Streitkräfte — und staunt über das militärische Unvermögen der russischen Armee.

Mit erbittertem Widerstand der Verteidiger ist auch im Osten der Ukraine zu rechnen. «Ganz gleich, wie viele russische Truppen dorthin getrieben werden: Wir werden kämpfen», versicherte Präsident Wolodymyr Selenskyj.

Dass die russischen Streitkräfte schnelle Erfolge im Osten des Landes feiern können, bezweifeln auch Expert*innen. Benno Zogg vom Zentrum für Sicherheitsstudien an der ETH Zürich rechnet nicht mit einem raschen Fortkommen der russischen Truppen. «Das wird wahrscheinlich wochenlang sehr, sehr blutig werden und kaum schnelle Vorstösse für Russland mit sich bringen», sagte er dem SRF.

Für die ukrainischen Truppen hingegen sei es «absolut zentral», sich nicht einkesseln zu lassen und sich somit vom Nachschub von Munition abschneiden zu lassen.

Mit Material von dpa, AP und AFP.