Ukraine fehlen die neuen SoldatenNiemand will, «dass der Sohn, der Bruder, der Vater eingezogen wird»
gbi
9.1.2024
Die Mission ist klar: Die ukrainischen Streitkräfte brauchen 450'000 neue Männer für den Krieg gegen die russischen Truppen. Doch es gibt erhebliche Probleme – von juristischem Widerstand bis zur Korruption.
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09.01.2024, 00:00
09.01.2024, 08:24
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Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Fast zwei Jahre nach Beginn des russischen Angriffskriegs hat die ukrainische Armee mit Rekrutierungsproblemen zu kämpfen.
Es fehlen rund 450'000 Soldaten. Deshalb will Kiew die Mobilisierung per Gesetzesänderung ausweiten.
Doch diese Änderung sei höchst umstritten, sagt ein Analyst. Ausserdem seien viele nicht mehr bereit, für «den nicht besonders guten Sold» freiwillig in den Kriegsdienst zu treten.
Ausserdem wehren sich ukrainische Männer auch auf juristischem Weg gegen ihre Einberufung in den Wehrdienst. Denn die Rekrutierer greifen vermehrt zu rabiaten Methoden.
Fast zwei Jahre lang muss sich die Ukraine schon gegen die Truppen von Kremlchef Wladimir Putin verteidigen. Wobei die anonyme Formulierung «Die Ukraine» etwas Wesentliches verschleiert: Es sind Hunderttausende ukrainische Männer – und mehrere Tausend Frauen –, die an der Front unter Einsatz ihres Lebens kämpfen.
Die Rekrutierung ist eines der Hauptprobleme der ukrainischen Streitkräfte. Die Armee braucht rund 450'000 neue Soldaten für den Kriegsdienst. Sie sollen jene, die schon lange gedient haben, ablösen und ihnen damit eine Auszeit ermöglichen. Und natürlich gilt es auch Verwundete oder Getötete zu ersetzen.
Deshalb will die Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj die Mobilmachung nun per Gesetz anpassen: So soll das Reservistenalter von 27 auf 25 Jahre gesenkt werden. Auch sollen die Vorschriften für Ukrainer im wehrpflichtigen Alter – also zwischen 18 und 60 Jahren – verschärft werden, sich zu registrieren. Diese geplanten Änderungen stellte die Regierung Ende Dezember vor.
Die über 40'000 Frauen, die aktuell in der ukrainischen Armee Dienst leisten, tun dies freiwillig. Eine generelle Wehrpflicht für Frauen ist offiziell noch kein Thema.
Den eigenen Vater oder Bruder mag niemand an die Front schicken
In der Ukraine sei über die Gesetzesänderungen eine heftige Diskussion entbrannt, sagt Andreas Umland zur Sendung «Echo der Zeit» von Radio SRF. Er ist Analyst am Stockholmer Institut für Osteuropa-Studien und hält sich derzeit in Kiew auf. «Ich glaube, kaum jemand ist prinzipiell dagegen und hat Zweifel an der Notwendigkeit dieser neuen Rekrutierung. Aber wenn es dann sozusagen an das eigene Leben, an die eigene Familie geht, dann möchten eben viele eher nicht, dass jetzt noch der Sohn, der Bruder, der Vater auch noch eingezogen wird.»
Hinzu komme, dass der Dienst an der Front – anders als in Russland – nicht besonders gut bezahlt werde, sagt Umland. Die finanzielle Unterstützung der westlichen Partner stockt. Putins Armee habe daher gleich einen doppelten Vorteil bei der Mobilmachung. Ihr zweites Plus liegt in den Grössenverhältnissen der beiden Nachbarstaaten: Russland zählt rund 140 Millionen Menschen, die Ukraine rund 40 Millionen.
«Das ist jetzt eine erzwungene Situation für die ukrainische Führung – es gibt eben nicht genug Freiwillige mehr, die für den nicht besonders guten Sold zu dienen bereit sind», sagt der Osteuropa-Experte.
Dass sich angesichts dieser Probleme in der ukrainischen Landes- und Armeeführung eine gewisse Verzweiflung breitmacht, zeigt sich an Schilderungen von Jurist*innen und Menschenrechtsaktivist*innen. Die «New York Times» berichtete vor dem Jahreswechsel über zunehmende Fälle von rabiaten Taktiken der Rekrutierenden: Pässe würden beschlagnahmt, Ukrainer von der Arbeit abgeholt und am Verlassen von Rekrutierungsbüros gehindert. Auf Social Media mehrten sich auch Videos, die zeigten, wie Soldaten Menschen unter Druck in Fahrzeuge bugsieren.
Viele ukrainische Männer wehren sich gegen ihre Einberufung in den Militärdienst, laut «New York Times» gab es allein im vergangenen November 226 Gerichtsentscheide zu diesem Thema. Wobei die juristische Lage zusätzlich verkompliziert wird, da in der Ukraine das Kriegsrecht gilt.
Wer kann, kauft sich frei
Rechtsvertreter*innen der betroffenen Männer argumentieren, dass die Rekrutierenden mit solchen fragwürdigen Methoden ihre Kompetenzen überschreiten würden. «Die Militärs glauben, sie seien unantastbar», sagte Anwältin Tetiana Fefchak der US-Zeitung. Sie leitet in der westukrainischen Stadt Czernowitz eine Organisation für Männer, die sich gegen die Einberufung wehren.
Zu Beginn des Krieges hätten sich noch ausreichend Freiwillige gemeldet. Doch in den letzten Monaten habe sich das Blatt gewendet, allein ihre Organisation erhalte 30 bis 40 Anrufe pro Tag von Männern, die nicht in den Krieg ziehen wollten.
Ukraine: Besuch an der Front bei frostigen Temperaturen
Die Soldaten, die hier seit der russischen Invasion die Stellung halten und einen Durchbruch verhindern sollen, nehmen die Situation relativ gelassen.
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Die Korruption, die in der Ukraine notorisch grassiert, verschärfe das Problem zusätzlich. Laut «New York Times» ist es ein offenes Geheimnis, dass sich Männer mit ausreichenden finanziellen Möglichkeiten oder guten Beziehungen freikaufen können. Auch die Regierung gab im Herbst letzten Jahres bekannt, sie untersuche mehr als hundert Fälle von mutmasslicher Korruption im Rekrutierungsprozess.
Wer keine Ressourcen hat, hat keine Wahl. Oder wie ein Anwalt aus Kiew zitiert wird: «Es ist ein Krieg der armen Leute.»
Ukrainer im Ausland sind besonders interessant
In dieser Situation werden ukrainische Männer, die sich ins Ausland abgesetzt haben, für Kiew besonders interessant, sagt Analyst Andreas Umland zum «Echo der Zeit»: «Man muss hier aber unterscheiden zwischen den Männern, die im Ausland und tatsächlich wehrfähig sind oder sozusagen unter das ukrainische Mobilisierungsgesetz fallen, und denjenigen, die sowieso nicht eingezogen werden.» Dies könne etwa aus gesundheitlichen Gründen der Fall sein oder bei Vätern von drei oder mehr Kindern.
Prinzipiell wäre es für die Ukraine aber von Vorteil, wenn möglichst viele Männer aus dem Ausland rekrutiert werden könnten. Denn diese würden nicht der ukrainischen Wirtschaft entnommen. «Die Frage ist ja auch: Wenn jetzt mehr Männer eingezogen werden, wie werden die dann in ihren Firmen, in ihren Institutionen ersetzt?»
Die Mobilisierung wird Selenskyjs Regierung im bald anbrechenden dritten Kriegsjahr vor grosse Probleme stellen, urteilt auch das Magazin «Modern Diplomacy». Da kaum noch Ausnahmen vorgesehen seien, könnten künftig auch Ärzte, Wissenschaftler, Lehrer und Ingenieure eingezogen werden. «Die Unterstützung für Selenskyj wird in entscheidenden Städten wie Kiew, Odessa und Charkiw unweigerlich nachlassen», heisst es weiter.
Und selbst wenn neue Soldaten gefunden seien: Bis sie auf dem Schlachtfeld dienen können, würden noch Monate vergehen.
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