Immer weniger Russ*innen Putins widersprüchlicher Kampf gegen den Bevölkerungsschwund

André Ballin, DPA

7.1.2024

Eine Frau mit Kind verfolgt am Fernsehen, was der russische Präsident Wladimir Putin zu sagen hat. (Archivbild)
Eine Frau mit Kind verfolgt am Fernsehen, was der russische Präsident Wladimir Putin zu sagen hat. (Archivbild)
Keystone

Mit einem ultrakonservativen Familienmodell und Hetze gegen sexuelle Minderheiten will Kremlchef Putin das Schrumpfen der russischen Bevölkerung stoppen. Dabei verschärft sein Krieg gegen die Ukraine das Problem nur.

André Ballin, DPA

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Die russische Bevölkerung schrumpft und schrumpft – um bis zu einer halben Million Menschen pro Jahr.
  • Diese Entwicklung hat Präsident Wladimir Putin als grosses Problem bezeichnet. Und er versucht mit verschiedenen Mitteln, dagegen vorzugehen.
  • Die Annexion mehrerer ukrainischer Regionen brachte zwar einen Bevölkerungszuwachs. 
  • Gleichzeitig kostet der Krieg gegen die Ukraine Tausende junge Männer das Leben. Und viele Unzufriedene verlassen das Land.

Grossfamilien sollen in Russland zur Norm werden – zumindest, wenn es nach Wladimir Putin geht.

«Erinnern wir uns, dass viele russische Familien, unsere Gross- und Urgrossmütter sieben, acht oder mehr Kinder hatten. Lasst uns diese vortrefflichen Traditionen pflegen und wiederbeleben», sagte der 71-jährige Präsident am Weltkonzil des russischen Volkes Ende November. Damit rief er die jungen Menschen in Russland ganz konkret dazu auf, mehr Kinder zu bekommen.

Der seit fast 25 Jahren regierende Kremlchef sprach von «schwersten demografischen Herausforderungen», vor denen das Land stehe. In seiner Amtszeit hat sich die Bevölkerung Russlands nach Einschätzung des unabhängigen Demografieforschers Alexej Rakscha um etwa 6,5 bis 7 Millionen Menschen verringert. Dabei war Putin auch mit dem Ziel angetreten, diesen Rückgang zu stoppen.

Derzeit seien es noch etwa 140 Millionen Russ*innen, wenn die völkerrechtswidrig annektierte Krim mit eingerechnet werde. Ohne die ukrainische Halbinsel seien es rund 138 Millionen, sagt Rakscha in Moskau.

Und diese Zahl werde weiter sinken. Bei anhaltendem Trend werde die Bevölkerung bis 2030 um weitere 3 Millionen schrumpfen, prognostiziert der Forscher.

Zuwanderung aus dem armen Zentralasien

Dabei weisen die Zahlen nicht das ganze Ausmass des Dilemmas aus. Russland hat in all den Jahren noch von einer starken Zuwanderung aus den armen Ex-Sowjetrepubliken profitiert, vor allem den zentralasiatischen Staaten Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan.

Durch die Einverleibung der ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel Krim 2014 kamen nochmals 2,5 Millionen Bewohner*innen hinzu. Ohne diese Effekte wäre der Bevölkerungsschwund noch deutlich grösser. Die Annexion der vier ukrainischen Gebiete Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja im Zuge von Putins Angriffskrieg liess Russlands Bevölkerung noch einmal um 5 Millionen Menschen angewachsen, meldete Verteidigungsminister Sergei Schoigu Ende Dezember erfreut.

Dennoch ist eine alternde und schrumpfende Bevölkerung für Russland verheerend. Schon jetzt reichen die Arbeitskräfte im Land nicht aus. Die ungleiche Verteilung der Einkommen sorgt zudem dafür, dass ganze Landstriche veröden, besonders im Norden und Osten des Landes, den grossen Weiten Sibiriens.

Auch aus militärstrategischer Sicht ist das für den Kreml gefährlich. Um den natürlichen Bevölkerungsrückgang auszugleichen, müssten nach einer Prognose der Demografen Waleri Jumagusin und Maria Winnik von der Moskauer Higher School of Economics bis ins Jahr 2100 jährlich zwischen knapp 400'000 und 1,1 Millionen Menschen zuwandern.

Geld soll zum zweiten Kind animieren

Durchschnittlich gebärt eine Frau in Russland weniger als zwei Kinder. Putin kann dabei nur bedingt als Vorbild für seine Enkelgeneration gelten, denn offiziell hat der Präsident selbst nicht sieben oder acht, sondern lediglich zwei Kinder.

Zeitweilig konnte Putin tatsächlich Erfolge verbuchen, dank höherer Einkommen und grösserer sozialer Sicherheit. Darüber hinaus traf die russische Regierung bis etwa 2015 auch gezielt Massnahmen zur Verbesserung der demografischen Situation im Lande. Kindergartenplätze wurden geschaffen, das Gesundheitssystem verbessert, der Kampf gegen Alkoholismus und Tabakkonsum verlautet.

Putin gibt erneute Kandidatur für das Präsidentenamt bekannt

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Russlands Präsident Wladimir Putin kandidiert für eine weitere sechsjährige Amtszeit. Er habe dies am Freitag im Kreml nach der Auszeichnung von Soldaten bekannt gegeben, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Tass.

11.12.2023

In jener Zeit habe Putin relativ effizient für die Steigerung der Geburtenraten und die Senkung der Sterberaten gesorgt, attestiert ihm auch der Forscher Rakscha. «Das Mutterkapital für das zweite und dritte Kind war die erfolgreichste Massnahme», sagt er. Dieser finanzielle Anreiz wirkte tatsächlich bei vielen Familien als Motiv für die Geburt eines zweiten oder dritten Kindes.

Doch ab 2015 begannen die Probleme der Demografiepolitik. Damals wurde das Mutterkapital das letzte Mal inflationsbedingt angehoben. 2020 legte Putin fest, das Mutterkapital solle schon bei der Geburt des ersten Kindes ausgezahlt werden. «Damit hat er die Senkung der Effektivität programmiert, die jetzt gegen null tendiert», meint Rakscha. Denn für die Geburt des ersten Kindes seien finanzielle Faktoren weit weniger entscheidend.

Soziale Lage hat sich verschlechtert

Zudem hat sich in den letzten zehn Jahren die soziale Lage der Russinnen und Russen drastisch verschlechtert. Schon die Annexion der Krim mit den darauffolgenden westlichen Sanktionen hat den Lebensstandard der Bevölkerung wieder gedrückt.

Die einsetzende Grossmachtpolitik Putins zielte mehr auf Territorien als auf das eigene Volk ab. Der 2022 begonnene Krieg gegen die Ukraine zwingt nicht nur Hunderttausende junge Männer an die Front – wobei viele von ihnen schon gestorben sind –, sondern hat ebenso einen Exodus der Unzufriedenen hervorgerufen, die mitsamt ihren Familien das Land verlassen haben. Insgesamt sind es Schätzungen nach mehr als 1 Million, die zeitweise oder dauerhaft ausser Landes geflüchtet sind – auch wenn es keine verlässlichen Statistiken dazu gibt.

Die mit der Grossmachtpolitik einhergehende Rückbesinnung auf die sogenannten traditionellen Werte und konservative Familienbilder konnten den Geburtenrückgang nicht aufhalten. So versuchte der Kreml auch, angestachelt von der einflussreichen russisch-orthodoxen Kirche, mit Gesetzen gegen Schwule, Lesben und andere sexuelle Minderheiten «traditionelle» Familienwerte zu zementieren.

Sich durch gesellschaftlichen Druck in eine heterosexuelle Beziehung zu begeben und Kinder zu zeugen, hat in Russland eine lange Tradition. Dies wird international von Menschenrechtlern als gesellschaftsfeindlich kritisiert, zu Bevölkerungswachstum führt es nicht.

Recht auf Abtreibung wird beschnitten

Das Gleiche dürfte sich nun mit den Beschränkungen für Abtreibungen wiederholen. Seit Monaten wird in verschiedenen Regionen des Landes das Abtreibungsrecht der Frauen beschnitten. Sei es das Verbot für Privatkliniken, solche Eingriffe durchzuführen, seien es Gesetze, die die «Verleitung zur Abtreibung» unter Strafe stellen. Es gebe weltweit in den letzten 50 Jahren aber kein Beispiel dafür, dass Abtreibungsverbote dauerhaft die Geburtenraten anheben würden, meint Rakscha.

In diesem Jahr wird der natürliche Bevölkerungsrückgang seiner Schätzung nach bei einer halben Million Menschen liegen. Als Einwanderungsland hat Russland durch das imperiale Gehabe seiner Führung ebenfalls deutlich an Reiz bei den Nachbarvölkern verloren.

Vor zwei Jahren nannte Putin den Bevölkerungsrückgang eins der drängendsten Probleme Russlands. Mit dem Abnutzungskrieg in der Ukraine hat er dieses Problem nur selber vergrössert.