Lagebild Ukraine Nichts als Probleme – so ändert Kiew jetzt seine Taktik

Von Philipp Dahm

2.2.2024

25 Leopard-Panzer verlassen die Ostschweiz in Richtung Deutschland

25 Leopard-Panzer verlassen die Ostschweiz in Richtung Deutschland

Am Dienstag sind in der Ostschweiz die ersten Kampfpanzer des Typs Leopard 2 nach Deutschland abtransportiert worden. Die insgesamt 25 Panzer aus der Schweiz dürfen nicht an die Ukraine weitergeleitet werden.

30.01.2024

Schluss mit Starkreden: Sowohl der ukrainische Verteidigungsminister als auch der Geheimdienstchef legen die Karten auf den Tisch. Kiews Lage ist ernst, machen sie in einer PR-Offensive in Europa und den USA deutlich.

Von Philipp Dahm

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Mangel an Artilleriemunition und westlicher Unterstützung: Der Verteidigungsminister und der Geheimdienstchef der Ukraine räumen in einer PR-Offensive nun öffentlich den Ernst der Lage ein.
  • Die russische Armee setzt gleichzeitig seine Winteroffensive fort. Schwerpunkte: der Norden der Front und der Donbass.
  • Russische Erschöpfung, heimische Drohnen und ein Erwachen der EU: Das macht Kiew Hoffnung.
  • GLSDB-Munition und das deutsche Ringtausch-Konzept: Darum kommt trotz Kongress-Blockade auch aus den USA noch Hilfe an.
  • US-Diplomatin Nuland verspricht Wladimir Putin «nette Überraschungen auf dem Schlachtfeld» und prophezeit der ukrainischen Armee «grosse Erfolge in diesem Jahr».
  • Die ukrainische Armee feiert im Süden kleine und die russische Armee im Norden etwas grössere Erfolge. Im Donbass erleidet der Kreml hohe Verluste.

Ist es nun ein Gerücht oder wollte Präsident Wolodymyr Selenskyj den Oberkommandierenden der Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, entlassen? So oder so: Wladimir Putin gefällt das. Das Ganze ist ein Bärendienst an der Moral der ukrainischen Truppe, die gerade ohnehin nichts zu lachen hat.

Kiew läutet deswegen die Alarmglocken: Bloomberg berichtet, dass Rustem Umjerow der EU den Ernst der Lage geschildert hat. Seine Armee sei im Verhältnis drei zu eins unterlegen, warnt der Verteidigungsminister. Der Mangel an Artilleriemunition sei eklatant: Für die 1'500 Kilometer lange Frontlinie stünden täglich nur 2'000 Geschosse zur Verfügung.

Kyrylo Budanow stösst in den USA ins selbe Horn. Der Direktor des Militärnachrichtendienstes mahnt bei CNN, «Munition ist einer der entschiedensten Faktoren im Krieg». Mit Blick auf die Unterstützung des Westens sagt er: «Wir brauchen diese Hilfe wirklich.» Und der 38-Jährige deutet weitere Angriffe auf russisches Territorium an: Die Bevölkerung würde dort nun «das wahre Bild» des Krieges sehen. «Das ist hilfreich.»

Kiew ändert gerade offenbar seine Taktik: Mit den Problemen, die die Ukraine derzeit plagen, an die Öffentlichkeit zu gehen, scheine Kiews letzte Chance zu sein, das Ruder herumzureissen, folgert «War on the Rocks». Gleichzeitig nutzt Moskau die akute Schwäche und zieht seine eigene Winteroffensive durch, räumt auch Budanow ein: Schwerpunkte sind der nördliche Frontabschnitt und der Donbass inklusive Awdijiwka.

Was Kiew Hoffnung macht

Es hängen aber nicht nur dunkle Wolken über den Schlachtfeldern der Ukraine: Budanow glaubt auch, dass die russische Winteroffensive im Frühjahr «vollkommen erschöpft» sein wird, ist er sich mit dem Institute for the Study of War einig. Kiew sammelt laut Budanow Kräfte für eine Gegenoffensive, die räumlich begrenzt sein werde.

Mut macht auch die heimische Drohnenindustrie, die den Mangel an Artilleriemunition zum Teil relativiert. «Es wird eher Drohnen geben», verspricht Verteidigungsminister Rustem Umjerow heute bei einer Konferenz mit dem Digitalminister Mychajlo Fedorow und 120 Herstellern, mit denen «langfristig Verträge» abgeschlossen würden, um eine konstante Produktion sicherzustellen.

Ausserdem geben die Europäer nun Gas: Während sie bis Ende 2023 Kiew mit militärischer Ausrüstung im Wert vom 28 Milliarden Euro unterstützt haben, sollen es alleine in diesem Jahr 21 Milliarden Euro werden. Zudem hat die EU Ungarns Blockade durchbrochen und macht 50 weitere Milliarden für staatliche Hilfe an die Ukraine frei, die bis 2027 ausgezahlt sein sollen.

Trotz Blockade: Warum auch aus den USA noch Hilfe kommt

Blockade herrscht auch in den USA – doch auch wenn die Ukraine-Hilfen eingefroren sind, findet das Weisse Haus noch Mittel. Das neueste – den Ringtausch – hat der Präsident in Berlin abgeschaut: «Joe Biden rüstet Griechenland aus, damit Griechenland die Ukraine ausrüsten kann – und prorussische Republikaner können ihn nicht stoppen», titelt «Forbes».

Der Clou: Biden kann militärisches Material als überflüssig deklarieren, ihm einen Wert wie etwa null Dollar zuweisen und es an Verbündete abgeben, die es bloss transportieren müssen. Für das Gerät aus den USA soll Athen dann Flugabwehrsysteme wie Hawk, S-300, Tor, Osa und SU-23 Kiew geben. Und just, da die Ukraine den ATACMS-Vorrat aufbraucht, trifft neue US-Munition ein, für deren Produktion Boeing bereits letztes Jahr bezahlt worden ist.

Die Ground Launched Small Diameter Bomb (GLSDB) wird mit Himars- oder MLRS-Sytemen verschossen und hat eine Reichweite von 150 Kilometern. Sie gleitet im Endanflug, sendet also wenig Wärme aus, kann GPS-unabhängig steuern, hat eine geringe Radarsignatur und ist so nur schwer abzufangen. «Mister Putin wird einige nette Überraschungen bekommen», erzählt US-Diplomatin Victoria Nuland vielsagend heute in Kiew – und prophezeit der ukrainischen Armee gleichzeitig «starke Erfolge in diesem Jahr».

Putins Erfolge? «Sie können die Resultate selbst sehen»

An der Front behält Russland die Initiative. Geheimdienstchef Budanow gibt sich aber gelassen. «Es ist wie eine Spielregel: Du machst einen Zug, der Feind macht einen Zug. Jetzt ist der Zug des Feindes. Er wird enden, und dann startet unserer.» Zum Verlauf der russischen Winteroffensive sagt er bloss: «Sie können die Resultate selbst sehen.»

Die ukrainische Gegenoffensive könnte am Dnipro-Ufer über die Bühne gehen: Dazu passt, dass Frankreich weitere Artilleriesysteme vom Typ Caesar, EFA-Brückenleger und Minenräumgerät liefern will. Der Brückenkopf in Krynky im Oblast Cherson ist laut Kiew zuletzt ausgebaut worden. Überprüfen lässt sich das nicht.

Lage bei Robotyne. In Blau: durch die Ukraine kürzlich erobertes Gebiet.
Lage bei Robotyne. In Blau: durch die Ukraine kürzlich erobertes Gebiet.
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Auch im Oblast Saporischschja gab es Entlastung: Nach einem russischen Angriff hat die ukrainische Armee westlich von Werbowe ein wenig Boden gutgemacht.

Komplette russische Kolonne aufgerieben

Doch je weiter man die Front nach Nordosten abfährt, desto stärker sind Kiews Kräfte unter Druck. Zumeist gelingt es ihnen, die russischen Angriffe zurückzuschlagen: Für Aufsehen hat gerade die 72. Brigade bei Nowomychajliwka gesorgt.

Nowomychajliwka liegt südwestlich von Donezk – hier in der Bildmitte.
Nowomychajliwka liegt südwestlich von Donezk – hier in der Bildmitte.
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Am 30. Januar hat diese 72. Brigade eine ganze russische Kolonne zerstört, teilt sie auf Telegram mit. Drei T-72-Panzer, sieben gepanzerte Fahrzeuge vom Typ MB-LT und ein BMP-Schützenpanzer vom Typ BMP werden innert drei Stunden von Drohnen getroffen und ausgeschaltet. Entsprechende Videos schockieren auch russische Vertreter.

In Awdijiwka toben weiter schwerste Gefechte. Im Fokus steht der neue russische Angriffsvektor im Süden der Stadt: Die Angreifer konnten durch die Kanalisation so tief vorrücken.

Das ist ein Durchbruch, aber nicht der Durchbruch: Wenn die ukrainische Armee an der richtigen Stelle einen Gegenangriff erfolgreich abschliesst, kann sie die russischen Speersitze einschliessen. Ein geolokalisiertes Video zeigt einen ukrainischen Angriff an dieser Stelle. Ob der Clip auch aktuell ist, lässt sich allerdings nicht feststellen.

Bei Bachmut wird aktuell vor allem südlich der Stadt gekämpft.

Südlich von Bachmut bleiben Klischtschijwka und Andriivka die Brennpunkte.
Südlich von Bachmut bleiben Klischtschijwka und Andriivka die Brennpunkte.
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Im Norden der Front hat die russische Armee Geländegewinne gemacht, die taktisch wertvoll sein könnten, sofern die Gebiete gehalten werden können. Es geht dabei um ein Areal im Wald nördlich von Synkivka, das nördlich der Schlüsselstadt Kupjansk liegt. Auch westlich von Swatowe machen Moskaus Männer Boden gut.

Die Lage bei Kupjansk und Swatowe.
Die Lage bei Kupjansk und Swatowe.
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