Lagebild Ukraine «Uns läuft die Zeit davon»

Von Philipp Dahm

25.1.2024

Türkisches Parlament billigt Aufnahme Schwedens in die Nato

Türkisches Parlament billigt Aufnahme Schwedens in die Nato

Das türkische Parlament hat die Aufnahme Schwedens in die Nato gebilligt. 287 Abgeordnete votierten nach einer mehr als vierstündigen Debatte am Dienstagabend für den Beitritt des nordischen Landes zu dem westlichen Militärbündnis, 55 dagegen. Es wird erwartet, dass Präsident Recep Tayyip Erdogan den Vertrag zum Beitritt in den kommenden Tagen unterzeichnet.

25.01.2024

«Uns läuft die Zeit davon»: Nach Schweden warnt nun auch Norwegen vor einem Konflikt mit Russland, das seine Rüstung schneller ausbaut als gedacht. Auf dem Schlachtfeld spielt Wladimir Putin seine Stärken aus.

Von Philipp Dahm

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Nach Schwedens Minister Carl-Oskar Bohlin und Nato-Admiral Rob Bauer warnt nun auch der Befehlshaber der norwegischen Streitkräfte vor einer «ernsten Sicherheitslage».
  • Russland habe seine Rüstungsproduktion stärker gesteigert als gedacht. Die Nato-Staaten müssten nachziehen, fordert General Eirik Kristoffersen.
  • Beim Ramstein-Format konnten die USA zum ersten Mal überhaupt keine Hilfe für Kiew verkünden. Washington drängt die Europäer, mehr für Kiews Luftabwehr zu tun.
  • Die Ukraine leidet weiter an einem Mangel an Artilleriemunition, deren Preis sich seit Kriegsbeginn angeblich vervierfacht hat.
  • Die russische Armee hat einen neuen Angriffsvektor bei Awdijiwka.
  • Bei Krynky am Dnipro baut Moskaus Armee neue Schützengräben.

Der Krieg in der Ukraine wirkt weit über das Schlachtfeld hinaus. Im Januar macht Carl-Oskar Bohlin Schlagzeilen, als der schwedische Minister für Zivilverteidigung explizit warnt, es könnte Krieg geben. Dann mahnt der niederländische Nato-Admiral Rob Bauer, wir lebten in einer «Ära, in der wir das Unerwartete erwarten müssen».

Ist das nicht ein bisschen apokalyptisch? Nicht, wenn es nach General Eirik Kristoffersen geht: «Es herrscht eine ernste Sicherheitslage auf der Welt», sagt der Befehlshaber der norwegischen Streitkräfte dem «Dagbladet». Mit Blick auf die Unkenrufe der schwedischen Kollegen betont er: «Wir reden über die gleichen Dinge.» Und: «Uns läuft die Zeit davon.»

«Russland hat die Produktion deutlich gesteigert»: Moskau habe auf Kriegswirtschaft umgestellt und fülle sein Arsenal schneller als gedacht, so Kristoffersen. In den kommenden zwei bis drei Jahren müssten Norwegen wie auch andere Nato-Staaten stärker in die Verteidigung investieren.

Waffenhilfe für Kiew als «kalkuliertes Risiko»

Dass die Unterstützung für Kiew die eigenen Vorräte aufbraucht, sei ein «kalkuliertes Risiko», sagt Kristoffersen. «Aber es ist sehr wichtig, dass wir die Ukraine so lange wie nötig mit dem unterstützen, was sie braucht. Und es sieht so aus, als würde es noch eine Weile anhalten.»

Ausgerechnet aus Washington kommt derzeit aber keine Unterstützung: Zum Treffen der Ukraine Defense Contact Group kam Verteidigungsminister Lloyd Austin erstmalig mit leeren Händen. Dabei haben die USA diese Geberkonferenz im April 2022 auf dem Stützpunkt im deutschen Ramstein ins Leben gerufen.

Während der Stillstand im US-Kongress Washington eigene Lieferungen verunmöglicht, drängt Austin nun die Europäer, «tief zu graben» und Kiew mit «mehr lebensrettenden bodengestützten Flugabwehrsystemen und -raketen zu versorgen». Doch auch der Mangel an Artilleriemunition ist eklatant.

Granatenpreis vervierfacht

200'000 Granaten könnte die Ukraine jeden Monat verschiessen, weiss das «Wall Street Journal» – Russland hat täglich bis zu 30'000 Schuss zur Verfügung. Die USA hätten bisher zwar zwei Millionen Granaten geliefert, produzieren selbst aber aktuell gerade mal 28'000 pro Monat. Gleichzeitig habe die Nachfrage den Preis pro Schuss von 2'100 auf 8'400 Dollar hochschnellen lassen. Dazu trage auch der Nahostkonflikt bei.

Die Überlegenheit an Mensch und Material versucht der Kreml vor allem in der Schlacht um Awdijiwka auszuspielen – wie gewohnt ohne Rücksicht auf Verluste. Von den 950 russischen Soldaten, die die Ukraine innert 24 Stunden verletzt oder getötet haben will, dürfte das Gros in Awdijwka gefallen sein. Auch Krankheiten machen es Moskaus Armee angeblich schwer.

Doch ähnlich wie in Bachmut könnte der hohe Druck letztendlich zum Erfolg führen. Im Norden von Awdijiwka kämpfen Russen westlich des Bahndamms in Stepove um die Vorherrschaft im völlig zerstörten Dorf. Und in Awdijiwka selbst haben sie einen neuen Angriffsvektor eröffnet.

Neuer Angriffsvektor in Awdijiwka

Die russische Armee ist im Süden der Stadt vorgedrungen, wo kein Fluss den Vormarsch stört. Der finnische Militärexperte Emil Kastehelmi schreibt mit Blick auf neuere Satellitenbilder, dass die ukrainische Verteidigung durchbrochen, der Angriff aber abgewehrt worden sei. Ob der russische Vorstoss von Dauer ist, muss sich zeigen.

Russischer Vormarsch im Süden von Awdijiwka.
Russischer Vormarsch im Süden von Awdijiwka.

Eine Analyse neuerer Satellitenbilder zeigt angeblich, dass sich die Einschläge von den Vororten ins Stadtzentrum verlagern. Im Süden von Awdijiwka gebe es viele ein- und zweigeschossige Gebäude, die durch die russische Artillerie eingeebnet würden, um der Armee den Vormarsch zu erleichtern. Die Lage an den Flanken sei dagegen relativ stabil.

Die starken ukrainischen Verteidigungslinien im Donbas, wo der Krieg schon seit 2014 Alltag ist, haben im Kreml übrigens zu einem Umdenken geführt: Angeblich baut Russland seine Pionierfähigkeiten aus und will Kampfverbänden mehr Spezialisten zur Seite stellen, die dabei helfen, defensive Stellungen und Minenfelder schneller zu überwinden.

Front weitgehend stabil

Eine grosse russische Offensive war im Winter bei Kupjansk oder gar bei Charkiw erwartet worden, doch die Front ist weitgehend stabil. Das gilt für den Norden bei Kupjansk ...

DeepStateMap

... oder weiter südlich davon bei Lyman ...

DeepStateMap

... oder wieder weiter südlich bei Bachmut.

DeepStateMap

Südlich von Awdijiwka kann die russische Armee westlich von Marinka weiter vorrücken.

DeepStateMap

Im Oblast Saporischschja hält Russland den Druck auf die ukrainische Stellung in Robotyne aufrecht.

DeepStateMap

Der einzige Ort, an dem die ukrainische Armee mal die Initiative ergriffen hatte, ist der Brückenkopf am Dnipro im Oblast Cherson: Die russische Armee schafft es weiter nicht, Krynky zu erobern. Sie bleibt dabei, den Gegner mit Gleitbomben und Artillerie einzudecken, baut neu aber auch eigene Schützengräben, wie Satellitenbilder zeigen.

Neu angelegte russische Schützengräben östlich von Krynky (rote Linien).
Neu angelegte russische Schützengräben östlich von Krynky (rote Linien).
Youtube/Suchomimus

Damit soll wahrscheinlich der eigene Nachschubweg geschützt werden, der mit der Strasse T2206 nur drei Kilometer von Krynky entfernt verläuft. Die Strasse ist gesäumt von russischen Wracks, die von Drohnen oder Artilleriegeschossen getroffen worden sind.