Lagebild Ukraine Was für Putin im Krieg gerade gut läuft – und was nicht

Von Philipp Dahm

11.1.2024

Was sich für Selenskyj im Vergleich zum Vorjahr alles geändert hat

Was sich für Selenskyj im Vergleich zum Vorjahr alles geändert hat

What a Difference a Year Makes: Die Lage in der Ukraine sieht im Dezember 2023 so ganz anders aus als in der Vorweihnachtszeit 2022. Was sich zum Besseren und Schlechteren gewandelt hat, erfährst du im Video.

12.12.2023

Auf den ersten Blick beginnt das neue Kriegsjahr für Wladimir Putin verheissungsvoll. Vor der Wahl im März will der Kreml-Chef die Weichen auf Erfolg stellen. Doch das gelingt nur bedingt.

Von Philipp Dahm

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Im Vergleich zum Sommer schiesst Russlands Artillerie mit 10'000 Granaten pro Tag doppelt so viel ab. Kiew stehen hat dagegen statt 7000 nur noch 2000 Geschosse zur Verfügung.
  • Im Militär-Budget klafft die Schwere zwischen Kiew und Moskau 2024 weiter auseinander.
  • Neue Waffen aus Nordkorea, dem Iran und der heimischen Produktion kommen der russischen Armee zugute.
  • Aber: Deutschland kauft in Frankreich Artillerie-Granaten und macht Druck auf die EU. Prompt will Paris Kiew 85 Raketen vom Typ Scal liefern.
  • Wegen Partisanen rücken 35'000 Nationalgardisten in die besetzten Gebiete in der Ukraine ein. Sabotage-Akte in Russland häufen sch.
  • Keine Wahkampfhilfe von der Front: Die russische Armee kann partout den Dnipro-Brückenkopf in Krynky nicht beseitigen.
  • In Awdijwka kommen Moskaus Männer ebenso wenig voran wie bei Kupjansk.

Die Welt ist für Wladimir Putin scheinbar in Ordnung. Moskau hat zwar 2023 24 Prozent weniger Steuern durch Öl- und Gasverkäufe erlöst, aber laut Bloomberg immerhin noch 99,3 Milliarden Rubel eingenommen, was 941 Millionen Franken entspricht.

Die Sanktionen schmerzen die russische Wirtschaft, doch der Kreml ist auf Kurs: Während Wladimir Putin laut «Wall Street Journal» 2024 über ein Militärbudget von rund 120 Milliarden Dollar verfügen kann, steht Wolodymyr Selenskyj nur etwa ein Drittel der Mittel zur Verfügung.

Ein Übergewicht hat Russland mit Blick auf Mensch und Material. Während die russische Armee doppelt so viele Artilleriegranaten verschiesst wie im Sommer, feuert die Gegenseite statt 7'000 nur noch 2'000 Granaten pro Tag ab. Zudem rüsten Putins Verbündete seine Soldaten weiter auf.

Nordkorea hat Moskau indessen auch mit ballistischen Raketen ausgestattet: Pjöngjang nutzt die Ukraine als «Testgelände», schreibt «Reuters». Und der Iran hat laut Sky News die neue Drohne Shahed-107 entwickelt, die eine Reichweite von 1'500 Kilometern haben soll und auch Luft-Luft-Raketen mitführen kann. Sie soll dem Kreml bereits angeboten worden sein. Die neue Shahed-238 mit einem Düsentriebwerk ist dagegen schon im Einsatz.

Nationalgarde soll Partisanen jagen

Doch auch die heimische Industrie liefert: Der Rüstungskonzern Rostec kündigt etwa die Auslieferung einer neuen Gleitstreubombe an. Die PBK-500U SPBE-K Drel führt angeblich 15 Bomblets mit und visiert ihre Ziele durch ein kombiniertes Radar- und Infrarotsystem an. Auch die neue Gleitbombe FAB-1500-M54 bewährt sich auf dem Schlachtfeld.

Nach offiziellen russischen Angaben kämpfen 462'000 russische Armeeangehörige in der Ukraine: Die Mannstärke liegt angeblich bei 95 Prozent. Verstärkung bekommen die Einheiten durch 35'000 Nationalgardisten: Die Rosgwardija soll in den besetzten Gebieten Partisanen jagen, schreibt die «Kyiv Post». Es scheint alles gerüstet zu sein für die anstehenden Präsidentschaftswahlen im März, die die russische Propaganda so anpreist: 

Doch Wladimir Putin freut sich womöglich zu früh. Die amerikanische Unterstützung der Ukraine bleibt zwar noch aus, doch Washington unterstützt den Plan, russisches Vermögen im Ausland für Kiew zu konfiszieren. Bloomberg weiss, dass in den G7-Ländern 300 Milliarden Dollar schlummern, die dem Aufbau zugutekommen könnten.

Sabotage: Probleme an der Heimatfront

Weiterhin sollte Putin die Europäer nicht unterschätzen – auch, wenn sie mit Blick auf die militärischen Kapazitäten mit den USA nicht mithalten können. Doch der Wille ist da: Deutschland etwa kauft sogar bei einer nicht genannten Firma in Frankreich Munition für die Ukraine ein. 68'000 155-Millimeter-Granaten lassen sie sich gut 284 Millionen Franken kosten.

Noch verhindert Ungarns Premier Viktor Orban – hier am 5. Januar in Paris – die Genehmigung von Ukraine-Hilfen der EU über 50 Milliarden Euro.
Noch verhindert Ungarns Premier Viktor Orban – hier am 5. Januar in Paris – die Genehmigung von Ukraine-Hilfen der EU über 50 Milliarden Euro.
AP

Bald darauf rüffelt der deutsche Kanzler beim EU-Gipfel am 8. Januar in Brüssel seine Kollegen, ihre Unterstützung der Ukraine sei «zu gering». Sie müssten «ihre Anstrengungen verstärken». Prompt lässt Paris am 11. Januar verkünden, man werde Kiew weitere Scalp-Marschflugkörper liefern. Angeblich ganze 85 –– in der ersten Tranche wurden 50 geliefert.

Auch an der Heimatfront gibt es immer wieder schlechte Nachrichten für Putin. Es geht um Sabotage: Mal ist der Schaden klein, wenn etwa am 9. Januar 350 Kilometer südwestlich von Moskau in Orjol eine Drohne einen Tank entzündet. Mal ist er grösser – etwa, wenn am 11. Januar eine ganze Fabrik in Obuchowo im Oblast Moskau in Flammen aufgeht.

Krynky: Russen können Brückenkopf nicht beseitigen

Und nicht zuletzt will sich in der Ukraine selbst kein militärischer Erfolg einstellen. Die Front beginnt am linken, östlichen Dnipro-Ufer, wo es der russischen Armee partout nicht gelingt, den gegnerischen Brückenkopf in Krynky aufzulösen. 

Die Lage am Dnipro.
Die Lage am Dnipro.

Welle um Welle wird gegen die Stellung geschickt. Die Situation sei «extrem schwierig» wegen der «komplexen» Logistik, der numerischen Unterlegenheit und des Wetters, sagt Armeesprecherin Natalija Humenjuk. «Aber es ist möglich, die Position zu halten und den Brückenkopf weiter auszubauen, auch wenn der Feind seine Angriffe erneuert.»

Selenskyjs Soldaten schlagen die Attacken mit Artillerieunterstützung vom anderen Ufer – und vor allem mit Drohnen – zurück: Ein Video zeigt, wie die Magyar Birds diverse Militärfahrzeuge des Gegners zerstören. Auf dem Telegram-Kanal Rybar beschweren sich dagegen die Russen, die Luftverteidigung funktioniere nicht und die eigene Artillerieunterstützung reagiere zu langsam. Auch die elektronische Abwehr komme zu kurz.

Awdijiwka: Kein Durchkommen

Die Stadt soll bis zur Präsidentenwahl eingenommen werden, hat Putin angeblich befohlen. Was dafür spricht, dass das stimmt, ist die enorme Gleichgültigkeit gegenüber russischen Verlusten. Zuletzt sollen alleine an diesem Frontabschnitt innert zwei Tagen 1'000 Soldaten verletzt oder getötet und 70 Fahrzeuge ausgeschaltet worden sein.

Nach drei Monaten, die die Schlacht um Awdijiwka nun schon tobt, sei die russische Armee an der südlichen Zange keinen Meter vorangekommen, staunt der finnische Militärexperte Emil Kastehelmi. An der nördlichen Zange haben Moskaus Kräfte zwar den Bahndamm passiert, kommen westlich aber kaum weiter vorwärts.

Die Lage um Awdijiwka.
Die Lage um Awdijiwka.
DeepStateMap

Die Schlacht um Awdijiwka für Moskau als verloren abzutun, kommt – trotz ausbleibender Erfolge – nicht gut an. Zumindest beim prorussischen Militärblogger Rudenko, der sich über einen Artikel der «Bild» aufregt, die schreibt, Putins Offensive scheitere. Rudenko redet die Verluste weg, in dem er offenbar vorgibt, Ziel der Schlacht sei nicht die Eroberung der Stadt, sondern die Abnutzung des Gegners.

Kupjansk: Verlustquote von 7 zu 1?

Dass Kupjansk ein russisches Ziel in diesem Winter ist, erwartet nicht nur das Institute for the Study of War, sondern auch die ukrainischen Streitkräfte. Sie verteidigen die Stadt am Fluss Oskil aus der Tiefe: Das Dorf Synkivka im Norden ist der Prellbock, der die russischen Attacken abfedert.

Die Lage um Kupjansk.
Die Lage um Kupjansk.
DeepStateMap

Einem russischen Kommentator zufolge liegt die Verlustquote in dem Gebiet sieben zu eins zu Ungunsten ihrer Landsleute, doch trotz der starken ukrainischen Stellungen wird auch hier Welle um Welle gegen die Verteidiger geworden.

Zuletzt noch zwei Videos aus der Ich-Perspektive: Im ersten flieht ein russischer Soldat vor ukrainischen Streubomben, im zweiten kämpft ein Ukrainer im Schützengraben gegen den Gegner.